Überwachung: Im Königreich der Vereinigten Kameras

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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In Österreich droht sich die private und staatliche Videoüberwachung massiv auszubreiten: Wie Kameras das Verhalten der Bürger kontrollieren – am Beispiel Großbritannien.

In George Orwells Roman „1984“ werden die Menschen nicht nur allzeit beobachtet, sondern auch von einer Stimme zurechtgewiesen, etwa wenn sie die Morgengymnastik nicht ordentlich ausführen. Für uns unvorstellbar? Die nordenglische Hafenstadt Middlesbrough lässt ihre Kameras sprechen: „Hier CCTV! Dies ist eine Warnung! Sie befinden sich in einer alkoholfreien Zone! Bitte unterlassen Sie das Trinken! Sie werden aufgenommen!“ Folgt man nicht, kann man sein Bild wenige Tage später in der Lokalzeitung wiederfinden, mit der Bitte an die Bevölkerung, die Person zu identifizieren. Ein großer Erfolg, sagt man. Die Innenstadt ist nun ganz bettlerfrei.

In Kürze sollen im österreichischen Parlament die Weichen für eine fast schrankenlose Ausweitung der privaten Videoüberwachung gestellt werden. Eine Novelle des Datenschutzgesetzes erlaubt es praktisch jedem, Überwachungskameras installieren – die Polizei darf auf alle Bilder zugreifen. (siehe Gastkommentar S.45). Gleichzeitig suchen Direktoren um Erlaubnis an, Überwachungskameras zu installieren, weil sie mit den Schülern nicht mehr zurande kommen. Immer und überall beobachtet werden – auch in Österreich rückt dieser Alptraum ein Stück näher. Anlass für einen Blick nach Großbritannien.

Bis zu fünf Millionen Kameras

Im Königreich der Vereinigten Kameras wird jeder Brite täglich mehrere hundert Mal gefilmt, die Zahl der Kameras wird auf bis zu fünf Millionen geschätzt.

CCTV („closed circuit television“) werden die Videoüberwachungssysteme genannt, für deren Ausbau zeitweise bis zu drei Viertel des Budgets für Kriminalitätsprävention ausgegeben wurde. Am meisten Kameras befinden sich in der Londoner Innenstadt, dort überwachen sie zwecks Mautkontrolle auch den gesamten Verkehr. Infrarotkameras scannen die Nummernschilder, die vom Computer gespeichert werden, herkömmliche Kameras filmen Autos und Insassen, auch für polizeiliche Ermittlungen. Der nächste Plan: auch nicht angegurtete oder mit dem Handy telefonierende Autofahrer von den Kameras aufspüren zu lassen.

Was die Kriminalitätsbekämpfung betrifft, nannte der Leiter der zuständigen Abteilung von Scotland Yard, Mike Neville, die Videoüberwachung in London kürzlich ein „Fiasko“, sie sei viel zu teuer und kaum wirksam. Wer kann auch Millionen Aufnahmen pro Tag sichten, selbst wenn man, wie in England, private Sicherheitsdienste einspannt? Das Problem ist lösbar, bald wird die noch in den Kinderschuhen steckende Software zur Gesichtserkennung so weit sein, automatisch die Aufnahmen mit digitalen Fotos der Einwohner abzugleichen (die bereits heute für die biometrischen Reisepässe abgegeben werden); und Programme zur Verhaltenserkennung werden automatisch „verdächtige“ oder unerwünschte Bewegungen erkennen.

Einstweilen sucht man nach freiwilligen Spitzeln – und findet sie. Im Problemviertel Shoreditch startete 2006 ein Projekt, das es 20.000 Menschen rund um die Uhr ermöglichen sollte, über Kabelfernsehen auf die in der Gegend angebrachten Überwachungskameras zuzugreifen und ihre Nachbarn zu beobachten. Auf dem Kanal werden auch gleich Bewohner an den Pranger gestellt, die in der Vergangenheit auffällig waren und daher mit Verhaltensauflagen (das sogenannte „naming and shaming“) belegt wurden.

Britische McDonald's-Filialen wiederum nehmen den Begriff „Fast Food“ sehr ernst: Kunden müssen mit Post und Bußgebühr rechnen, wenn sie 45 Minuten statt der erlaubten 40 Minuten geparkt haben: Die Kameras haben Auto und Nummernschild erfasst, Fahrzeughalterdaten bekommt die Firma von den Behörden.

Die Heimat Jeremy Benthams

Großbritannien ist nicht nur die Heimat George Orwells, sondern auch Jeremy Benthams, der im 18. Jahrhundert für den Staat ein Architektur-Modell zur totalen Überwachung sehr vieler durch sehr wenige entwickelte: das Panopticon. Benthams Grundgedanke dabei war: Es müsste in einem solchen Gebäude gar nicht jeder jederzeit überwacht werden; die bloße Möglichkeit, in jedem Moment beobachtet zu werden, bringe die Menschen dazu, sich normgemäß zu benehmen.

Aber wer bestimmt über die Norm und ihre Einhaltung? Heute ist nicht mehr nur der Überwachungsstaat zu fürchten, sondern auch die Überwachungsgesellschaft: Jeder überwacht jeden. Für den liberalen Philosophen John Stuart Mill ist die „soziale Tyrannei“ sogar noch gefährlicher – weil sie „weniger Fluchtmöglichkeiten bietet, viel mehr in die Einzelheiten des Lebens eindringt und die Seele selbst versklavt“.

Noch gibt es nicht so viele Überwachungskameras in Österreich, und ihr Effekt ist kaum zu spüren. Beunruhigend sind sie trotzdem, schon aus einem einzigen Grund: Man gewöhnt sich an sie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2008)

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