Der Fall Kampusch wird wieder aufgerollt

Illustration: Besiana Bandilli (Die Presse)
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Der Kabinettschef von Justizministerin Maria Berger (SP): "Es wird ermittelt." Hatte Entführer Priklopil doch Mittäter? Eine Sonderkommission soll diese Frage klar beantworten.

WIEN. Die Entführung von Natascha Kampusch wird neu geprüft. Monatelang hatte es so ausgesehen, als ob die Behörden den Jahrhundert-Fall ad acta legen würden; die Staatsanwaltschaft Wien wollte definitiv einen Schlussstrich ziehen – doch nun ist alles anders. Das Justizministerium will vor allem die ungeklärten Fragen aufgreifen, die sich nach wie vor aus dem Bericht der „Kampusch-Kommission“ ergeben. Zum Beispiel: Ist nur eine Person für die Entführung der damals zehnjährigen Schülerin verantwortlich oder gab es einen weiteren Täter?

Der Kabinettschef von Justizministerin Maria Berger (SP), Albin Dearing, bestätigt der „Presse“ diesen neuen Vorstoß: „Die Ministerin hat entschieden: Es wird ermittelt.“ Dieser Entwicklung waren laut Innenressort-Kabinettschef Franz Lang mehrere „Besprechungen zwischen Vertretern des Innenministeriums und der Justiz“ vorausgegangen.

Der kritische Bericht der „Kampusch-Kommission“ unter der Leitung des früheren Verfassungsgerichtshofpräsidenten Ludwig Adamovich hatte in der Tat gravierende Mängel bei den Nachforschungen angeführt. Nachdem sich Natascha Kampusch im August 2006 nach fast achteinhalbjähriger Gefangenschaft in einem Verlies in Strasshof (Niederösterreich) aus eigener Kraft befreien konnte, spielten Opferschützer die dominierende Rolle. Im Bericht der Evaluierungskommission heißt es dazu: „Aus den Ergebnissen der Befragungen (...) scheint hervorzugehen, dass Repräsentanten der Opferschutzorganisation unmittelbaren Einfluss auf die Einvernahme-Fragestellungen an Natascha Kampusch genommen haben.“ Opferschutz bedeute aber auch, das Risiko für „weitere potenzielle Opfer zu minimieren“, heißt es danach vielsagend. Dieser Aspekt gelte vor allem dann, „wenn fassbare Gründe für die Annahme sprechen, dass (zumindest) ein bisher nicht ausgeforschter (weiterer) Täter tatinvolviert war“.

Zeugin: „Zwei Männer“

Klar ist, dass nach wie vor die Zeugenaussage einer damals zwölfjährigen Schülerin im Raum steht, wonach Natascha Kampusch von zwei Männern entführt wurde. Der Kommissionsbericht nennt das einen „von Anfang an fassbaren Hinweis in Richtung Mehrtäterschaft“.

Der mutmaßliche Entführer Wolfgang Priklopil hatte unmittelbar nach der Flucht Natascha Kampuschs Selbstmord begangen. Als seinerzeitiger Freund und Geschäftspartner von Priklopil war daraufhin der heute 44-jährige H. in den Mittelpunkt gerückt (er und Priklopil betrieben eine Baufirma). H. hatte stets beteuert, von der Entführung nichts mitbekommen zu haben. Dennoch muss er nun damit rechnen, dass seine Rolle neuerlich überprüft wird. Sein Anwalt Ernst Schillhammer versprach am Donnerstag weitgehende Kooperation mit den Behörden: „Er ist selber an der restlosen Aufklärung interessiert und stellt sich selbstverständlich für weitere Fragen zur Verfügung.“

Wer etwaige „weitere Fragen“ stellen wird, entscheidet sich in den nächsten Tagen. Derzeit dürfte im Innenministerium an einer neuen Sonderkommission „gebastelt“ werden. Auch Ermittler, die bisher nicht mit dem Fall betraut waren und daher möglicherweise neue Ansätze einbringen, werden rekrutiert. Aus dem Justizressort hieß es weiter, dass die neuen Ermittlungen voraussichtlich Ende nächster Woche starten könnten. Davor seien noch Gespräche mit der Staatsanwaltschaft Wien geplant.

Dann wird sich auch zeigen, ob „handwerkliche“ Fehler der bisherigen Ermittlungen repariert werden. So wurden zum Beispiel persönliche Gegenstände (Videokassetten, Notizzettel, Bekleidung), die im Verlies in Strasshof gefunden wurden, an das Opfer ausgefolgt. Eine präzise kriminaltechnische Erkundung, ob diese Dinge möglicherweise einen gewissen Beweiswert haben, unterblieb.

Protokolle im Tresor

Weiters wurden die Protokolle der ersten Einvernahmen Kampuschs durch die Justiz in einem Tresor verwahrt (angeblich, um eine Weitergabe an die Medien zu unterbinden) – nicht einmal die Polizei bekam vollständige Akteneinsicht. Somit konnten etwaige daran anknüpfende Ermittlungen gar nicht beginnen.

Ludwig Adamovich sagte zur „Presse“, er wolle vorerst keinen Kommentar abgeben, sondern die weitere Entwicklung abwarten. Er verwies aber darauf, dass der Kommissionsbericht nicht nur von ihm, sondern von insgesamt sechs hochqualifizierten Kommissionsmitgliedern einstimmig verabschiedet wurde. „Wir haben mit einer Stimme gesprochen.“

CHRONOLOGIE

■ Natascha Kampusch wurde am 2. März 1998 in Wien-Donaustadt auf dem Weg zur Schule entführt. Mehr als acht Jahre lang wurde sie in einem Haus in Strasshof (NÖ) von ihrem Entführer Wolfgang Priklopil gefangen gehalten. Am 23. August 2006 gelang ihr die Flucht. Priklopil warf sich wenige Stunden später in Wien vor eine S-Bahn.

■ Kritik an der Polizei. Schon bald nach der Flucht von Kampusch wurde bekannt, dass die Behörden aufgrund von Nachforschungen seit 1999 wiederholt im Haus des Entführers waren. Kampusch wurde dabei aber nicht entdeckt. Von 1998 bis 2002 hatte in dem Fall das (mittlerweile aufgelöste) Wiener Sicherheitsbüro ermittelt, danach war der Akt einer Sonderkommission unter Federführung der burgenländischen Kripo übergeben worden.

■ Evaluierungskommission. Unter Ludwig Adamovich, dem früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, wurde der Fall 2008 von einer Kommission untersucht.

("Die Presse" Printausgabe vom 24. Oktober 2008)

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