Im Un-Ruhestand

(c) BilderBox (Erwin Wodicka)
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Immer mehr ältere Menschen wollen über das Pensions-Antrittsalter hinaus arbeiten. Ihre Motive sind manchmal finanzieller und immer psychologischer Natur. Doch der Staat ist ihnen mehr Feind als Freund.

Das neue Leben beginnt an einem Montag, es ist ein schöner Tag, es ist der 2.April 2007. Elvira Kopal, 60, widmet sich ihrem Garten, sie beginnt ein Muskelaufbautraining und belegt einen Sprachkurs in Italienisch. In den nächsten Wochen wird sie in die Natur gehen, sie wird viele Bücher lesen und die Welt bereisen. Sie ist auch beruflich weit gereist, aber jetzt ist das anders, es ist ein befreiendes Gefühl, eine Art Belohnung für ein intensives Berufsleben.

Kopal hatte Welthandel in Wien studiert, war in der Textilbranche, in der Papierindustrie, im Bankwesen und schließlich 27 Jahre lang in der Pharmaindustrie beschäftigt: Country-Manager für Osteuropa, Key Accounter, Verantwortliche für dies und Managerin für das, verheiratet, Mutter eines Sohnes. Es ist der Lebenslauf einer modernen Karrierefrau.

Doch die Muße ist vergänglich, Gartenarbeit verliert rasch seine Reize, und Reisen allein macht auf Dauer nicht glücklich. Nach drei Monaten in der Pension kommt das Tief: Es gibt keine ernst zu nehmende Aufgabe mehr. Und deshalb kein Ziel. Und deshalb auch keine Herausforderung.

„Man kann nicht von heute auf morgen nichts tun, wenn man das ganze Leben so engagiert war“, sagt Kopal.

Im vierten Ruhestandsmonat zapft sie systematisch ihr altes Netzwerk wieder an – es funkt auf Anhieb. Bald ist die Wienerin im Vorstand der Selbsthilfegruppe für Osteoporose und steht den aktiven Diabetikern projektweise zur Seite, beides sind ehrenamtliche Jobs. Ein gutes Jahr später wird sie auch Konsulentin in der Pharmafirma eines ehemaligen Kollegen; von nun an lobbyiert sie österreichweit für ein neues Produkt.

Elvira Kopal sitzt im ersten Stock eines Innenstadt-Cafés, durch dessen Glasfront der Stephansdom zum Greifen nahe scheint. Ihr Haar hat sie blond gefärbt, sie trägt Bluse, Blazer und eine Perlenkette um den Hals. Kopal ist eine kraftvolle Person, offen und lebensbejahend. Wenn sie spricht, dann reden ihre Hände mit; und wenn sie in den Rückspiegel des Lebens blickt, dann schwingt auch Stolz mit in der Stimme.

Mit 62Jahren sind ihre Aufgaben längst wieder zu einem Fulltime-Job angewachsen. Der Französischkurs geht nebenbei, sie nennt das „Fortbildung“. Es ist der Hunger nach Erfolg, der Kopal antreibt – oder besser: die Befriedigung, wenn man ihn hat. „Das macht einen viel glücklicher, als nichts zu tun.“


Wie die alten Schweden. Doch Frau Kopal ist die Ausnahme der Regel. Die meisten Rentner in ihrem Bekanntenkreis widmen sich lieber Haus und Hof, spielen nachmittags Golf und besuchen abends Konzerte. Österreich ist eine Insel für Frühpensionisten: Hacklerregelung und Schwerarbeiterpension, die Menschen gehen durchschnittlich mit 58,1 Jahren in Ruhestand, obwohl das Pensionsantrittsalter für Frauen bei 60 und für Männer bei 65 Jahren liegt.

Die EU-Kommission veranlasste dieser Umstand im Jänner zu harscher Kritik, sie fordert verschärfte Bedingungen für die vorzeitige Pensionierung und verbesserte Anreize für ältere Arbeitnehmer. Denn mit einer Erwerbsquote von 38,6 Prozent in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen liegt Österreich im EU-27-Vergleich nur auf Platz 17. Zum Spitzenreiter – nämlich Schweden mit 70Prozent – fehlen nachgerade Welten.

Die alten Schweden sind deshalb nicht per se auch fleißiger. Der Pensionsexperte Bernd Marin sieht die Unterschiede zwischen den beiden Staaten erstens im (Anreiz-)System und zweitens in der damit verbundenen politischen Kultur („oder Unkultur“). Denn in Schweden wird belohnt, wer länger im Erwerbsleben bleibt; es gibt kein formelles Pensionsantrittsalter mehr. Es ist ein einfaches, es ist ein liberales Prinzip: Wer länger arbeitet, verdient im Ruhestand mehr. Ab 61 Jahren steigt die Rente sogar um gut elf Prozent pro Jahr.

Der Mann, der Österreich schwedischer machen will, heißt Leopold Stieger, trägt Anzug, Krawatte und einen Professorentitel. 69 Jahre sei er, demnächst werde er 70. Das Haar ist schütter, die Stimme bedacht und leise, doch Stieger ist so etwas wie der fleischgewordene Un-Ruhestand. Er will seinen Lebensabend nicht mit Kreuzworträtsellösen und Enkelhüten bestreiten, das würde ihm nicht genügen. Er sagt: „Ich werde arbeiten, solange es geht.“

Stieger kam seinerzeit aus Oberösterreich nach Wien, um Wirtschaftswissenschaften zu studieren und ziemlich bald nach der Promotion eine Personalentwicklungsfirma zu gründen. Es kam eine zweite dazu und später noch eine dritte, vor fünf Jahren hat er dann an die Söhne übergeben: „Was für ein Glück auch“, sagt er, „dass alle vier in mein Geschäft eingestiegen sind.“

Für die Rolle des Seniors, der seine Oberlehrerneurose tagaus, tagein durchs Unternehmen spazieren führt, ist Stieger eine glatte Fehlbesetzung. Sein Leitsatz lautet: „Antworte nur, wenn du gefragt wirst.“ Dafür fragt er sich selbst des Öfteren, ob die Söhne auch ohne ihn zurechtkommen, und die Antwort, die er sich insgeheim gibt, ist immer dieselbe: „Ich glaube, sie schaffen es schon. Aber ich freue mich, wenn sie meinen Rat suchen.“

Nutzlos in die Depression. Es ist das Gefühl, über Nacht für die Gesellschaft nutzlos geworden zu sein, das Rentner in jene Sackgasse des Lebens treiben kann, die gemeinhin als Pensionsschock umschrieben wird. Am Beginn stehe eine mehr oder weniger deutlich empfundene Resignation, die durch hektische Betriebsamkeit überspielt werde, erklärt der Hirnforscher Gerald Hüther, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung an den Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg. Die Folgen können schwerwiegend sein: Depressionen, Angststörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Stieger hat sicherheitshalber vorgesorgt und sich in der Pension ein neues Betätigungsfeld gesucht: die Pension selbst nämlich. Vor drei Jahren gründete er die Plattform „Seniors4Success“, sie vertritt die Interessen jener, die über das Pensionsantrittsalter hinaus weiterarbeiten wollen. Er möchte „das Bewusstsein dafür schaffen, dass das Potenzial und Know-how der älteren Generation nicht länger ignoriert werden dürfen“.

Die demografischen Prognosen unterstreichen seine These: 2050 werden Frauen im Durchschnitt 90 und Männer 86 Jahre alt werden (jetzt sind es 82,9 bzw. 77,3 Jahre). Gleichzeitig sinkt die Geburtenrate, weshalb sich die Altersstruktur in Österreich deutlich hin zu älteren Menschen verschiebt. Derzeit sind 22,2 Prozent über 60 Jahre alt, im Jahr 2030 werden es bereits mehr als 31 Prozent sein. Wer wird dereinst unsere Pensionen bezahlen?

Die Handicaps der Alten. Im demografischen Wandel der Zeit hat sich auch der Ruhestand, quasi naturgegeben, verändert. Früher seien die Menschen relativ bald nach dem Pensionsantritt pflegebedürftig geworden, sagt Stieger. „Heute sind sie hingegen noch 20 Jahre lang fit, fähig und frei. Aber kein Mensch braucht sie.“

Josef Redl, 63, ist ein Mann der alten Schule, kurze Haare, grauer Anzug, rote Krawatte, ein wenig stoisch, aber bienenfleißig – und zwar immer noch. Als er über Selbst- und Fremdbild zu sprechen beginnt und über die Diskrepanz, die dazwischenliegt, reißt er die Augen hinter der Brille auf. „Wissen Sie, für die Unternehmen hat man das Etikett ,Pensionist‘ umhängen, und insofern ist man als Berater uninteressant. Das ärgert mich schon, denn ich dachte, es wird leichter.“

Redl arbeitete ein Berufsleben lang im Banken- und Versicherungsbereich, in den letzten zehn Jahre war er Vorstandsmitglied in der P.S.K. Versicherung. Mit 60 wurde der Betriebswirt dann mehr oder weniger unfreiwillig in den Ruhestand verabschiedet, obwohl er heute noch „vielen Unternehmen im Bereich Marketing und Vertrieb weiterhelfen könnte“, wie er meint.

Doch Redl, und das ist sein zweites Handicap, kann nicht oder nur eingeschränkt helfen, das will der Gesetzgeber so. Denn die Ruhensbestimmungen besagen, dass jeder ASVG-Frühpensionist bis zum Regelpensionsalter – in seinem Fall: 65 Jahre – nur geringfügig dazu verdienen darf (siehe auch Artikel unten). Die Beamten hingegen hat der Verfassungsgerichtshof schon 2005 aus dieser Fessel befreit.

Am liebsten würde der gebürtige Südburgenländer, der weiland zum Studium nach Wien kam und blieb, das Pensionssystem in Österreich von Grund auf reformieren: „Man sollte selbst entscheiden können, wann man aus dem Berufsleben aussteigt.“ Schauspieler müsste man sein. Oder Bildhauer. Oder Musiker. Denn: „Die hören nie zu arbeiten auf.“

Redl ist ein Mann, der die Herausforderung sucht. Er war schon am Großglockner und am Großvenediger, er bestieg den Mont Blanc und den Kilimandscharo. Das größte Abenteuer war dennoch der Ruhestand. Auf der Suche nach verborgenen oder verstaubten Talenten konsultierte Redl sogar einen Coach. Aber sein Buchprojekt blieb erfolglos, und Saxofonunterricht ist jedenfalls nicht tagesfüllend.

Die neue Passion fand er schließlich in seiner Funktion als (ehrenamtlicher) Präsident des Finanz-Marketing-Verbandes. Seit der Ära Redl steht die Organisation für hochkarätige Podiumsdiskussionen und den „Recommender“-Preis, der einmal jährlich für Kundenzufriedenheit in der Finanzbranche vergeben wird. Die nächste Preisverleihung steht im Sommer an, es ist viel Organisationsarbeit, die der Präsident zu verrichten hat: 50 E-Mails pro Tag, unzählige Telefonate, ein Vollzeitjob, keine Frage.


Den Arbeitgeber geklagt. Doch der Schaffensdrang im Alter ist keineswegs auf alternde Exmanager beschränkt. Redl erzählt etwa von seinem Schwager, einem Maurer, der als 70-Jähriger immer noch Häuser baue, obwohl er es finanziell schon lange nicht mehr nötig hätte. „Aber er wird gebraucht, und er kommt unter die Leute.“

Es gibt auch andere Geschichten, jene von Eva Stein (Name von der Redaktion geändert) zum Beispiel, einer Sekretärin, die ihrem Arbeitgeber – einem großen Medienunternehmen in Wien – seit 19 Jahren treu ist. Frau Stein ist eine quirlige, optisch durchaus auffällige Person; man wird kaum für möglich halten, dass sie Ende April 60 wird.

Dass sie die Geschäftsführung dann in Rente schicken will, nimmt Stein nicht unwidersprochen zur Kenntnis, sie hat das Unternehmen jetzt auf Nichtigkeitserklärung der Pensionierung geklagt. Der Prozess werde bestimmt kein Sprint werden, eher schon ein Marathon, sagt sie. „Aber ich muss Kredite zurückzahlen und möchte meine Tage nicht auf Parkbänken versitzen.“

Der Hobbypensionsforscher Stieger beobachtet neuerdings sogar einen Trend zum Arbeiten jenseits der 60: „Immer mehr Menschen schauen sich um, ob es nicht doch noch etwas gibt für sie.“ Die Motive sind manchmal finanzieller und immer psychologischer Natur: Es geht um eine Aufgabe, um Anerkennung, und es geht bisweilen auch um persönliche Freiheit.

Im Innenstadt-Café philosophiert Elvira Kopal noch immer bereitwillig über das Altern. Ein Blick auf die Uhr, dann fallen die Abschiedsworte, sie muss schon zum nächsten Termin. „Der Unterschied ist: Jetzt, in der Pension, muss ich nicht mehr arbeiten – ich kann.“ Und das, sagt sie, sei das eigentlich Schöne am neuen Leben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2009)

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