Das Gefängnis als Altersheim

THEMENBILD: JUSTIZANSTALT JOSEFSTADT
THEMENBILD: JUSTIZANSTALT JOSEFSTADTAPA/HELMUT FOHRINGER
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Einige Dutzend Pflegebedürftige sitzen in einer Zelle – mit einer älter werdenden Gesellschaft steigen auch diese Zahlen. Der Bedarf an Pflege- und Hospizbetten im Gefängnis nimmt zu.

Der Pädophile P. (51) hat eine Sauerstoffmaske auf und streichelt röchelnd die Hand seines weinenden Zellengenossen F., der sein Schicksal heute schlechter erträgt als sonst. Darüber zu reden, was ihn bedrückt, ist nicht nötig. Sie verstehen sich, weil sie dieselben Sorgen haben: Beide wissen nicht, ob sie das Gefängnis lebend verlassen.

P. nicht, weil ihm seine schwere Lungenkrankheit nach und nach die Luft abschnürt. Den Atem bis zum Ende seiner Haftstrafe wird er vielleicht nicht mehr haben. F. ist ein 84-jähriger Sexualstraftäter, der fünf Jahre bekommen hat. Wenn er viel Glück hat, kommt er wegen guter Führung im Sommer raus. Er ist herzkrank und hat zu Hause eine pflegebedürftige Frau, der es mit jedem Tag schlechter geht, die jeden Tag etwas mehr ihren Mann und das gemeinsame Leben vergisst. „Nächstes Jahr hätten wir goldene Hochzeit“, sagt F. mit tränenerstickter Stimme. „Ich würde das so gern erleben.“

Auf der Wilhelmshöhe in Pressbaum, einer Außenstelle der Justizanstalt Josefstadt, sind jene Straftäter untergebracht, „denen es zu schlecht für das Gefängnis, aber zu gut für das Krankenhaus geht“, wie der ärztliche Leiter, Friedrich Knechtel, seine Klientel beschreibt. Auf einer Station mit 60 Pflegebetten betreut er schwer kranke und alte Menschen – manche bis zu ihrem Tod. Die Einrichtung wurde 1910 auf einem malerischen Hügel über Pressbaum gebaut und war ein Erholungsheim der Wiener Kaufmannschaft. In den 1950er-Jahren erwarb das Justizministerium das Gebäude. Die Sonderkrankenanstalt war ursprünglich für Insassen gedacht, die an einer Lungentuberkulose erkrankt waren oder bei denen Verdacht darauf bestand. Da diese Fälle im Lauf der Jahre weniger wurden, die Zahl der älteren, pflegebedürftigen Häftlinge aber größer, wurde die Betreuung alter Menschen zum Schwerpunkt des Hauses – bis hin zur Sterbebegleitung.

Mit Stichtag 1. März 2015 gab es in Österreich 344 Insassen, die älter als 60 Jahre sind. Vielen haben eine Alkohol- oder Drogenvergangenheit, die ihnen körperlich derart zusetzt, dass sie schon sehr früh Pflege brauchen. Vor allem die Zahl der Männer nimmt laufend zu. Derzeit sind im ganzen Land neun Häftlinge zwischen 80 und 91.

Z. ist mit seinen 87 Jahren einer der ältesten. Er steht mit wackeligen Knien am Fenster und hält sich zur Stabilisierung an den grünen Gitterstäben vor seinem Fenster fest. Draußen auf den Hügeln blühen die ersten Himmelschlüssel und Leberblümchen. „Ich mag den Frühling, schauen Sie sich die wundervolle Landschaft an“, sagt er beim Besuch der „Presse am Sonntag“ sehr laut, weil er schlecht hört. Er schafft es nur selten, im Hof zu spazieren, ein paar Schritte mit dem Rollator auf dem Gang sind anstrengend genug.

Z. war einmal Polizist, vor einiger Zeit stritt er mit seiner Frau. Dann schoss er mit einem Jagdgewehr – sie überlebte schwer verletzt. „Ich war immer ein Fan davon, die Dinge selbst zu regeln“, sagt der Mann. Seine Frau besucht ihn nicht mehr, darum ist es auch hier jetzt sein Zellengenosse M., der sich um den gebrechlichen alten Mann und das gemeinsame Zuhause kümmert. Da er weiß, wie sehr Z. den Frühling mag, hat er ihm etwas davon mitgebracht: Frische Palmkätzchen aus dem Hof stehen in einer schmalen Tonvase auf dem Nachttisch. „Seit er bei mir liegt, hat er schon sechs Kilo zugenommen“, sagt M. stolz. „Ich koche für ihn.“


Familienersatz. Die Zellen auf der Wilhelmshöhe sind mit Herdplatten ausgestattet, haben einen Kühlschrank, Krankenbetten, einen Tisch, sind groß, geräumig und hell. An den Wänden hängen Zeichnungen und Bilder. Außer den gelben Zimmertüren aus dickem Stahl, die jeden Tag um 15 Uhr quietschend ins Schloss fallen und bis in die Morgenstunden nicht mehr geöffnet werden, unterscheidet sich die Wilhelmshöhe wenig von einer – nicht sehr modernen – Krankenstation.

„Wir sind ein kleines Haus. Für jene Menschen, die hier lang sitzen, teilweise bis zum Ende ihres Lebens, ist das ein Familienersatz“, sagt Knechtel. „Es gab keinen Einzigen, der raus wollte, als es dann wirklich zu Ende ging.“ Viele verbüßen eine sehr lange Haftstrafe, haben draußen nur mehr wenige Bezugspersonen. Sterben will jeder dort, wo man sich respektiert und gemocht fühlt.

Auch Z. weiß nicht, ob ihn sein Anwalt rechtzeitig rausbekommt, um noch einen Frühling draußen zu erleben. Das scheint kein so großes Problem zu sein. „Es ist herrlich hier. Jeden Tag kommt jemand zum Blutdruckmessen.“ Heute freut er sich über das, was sein Zellengenosse kochen wird – und über die Palmkätzchen. „Was morgen ist, das ist morgen.“

K. (65) ist das, was mancherorts Häfenbruder genannt wird. Auch er kümmert sich schon lang nicht mehr um sein Morgen, dafür umso mehr um das Hier und Jetzt und um die anderen Häftlinge. „Ich habe einiges gut zu machen im Leben“, sagt der Mann, dessen tätowierte Brust eine lange wulstige Narbe ziert. Das Alter hat ihn milde gemacht, das schlechte Gewissen quält ihn. K. war einst ein Rotlichtkönig, ein brutaler Mann, der mit roher Gewalt Prostituierten Knochen brach. Heute hat der herzoperierte, lungenkranke Mann nicht einmal die Kraft, eine Viertelstunde aufrecht zu stehen. „Früher war ich ein echter Arsch, jetzt geht es mir arsch, das hab ich mir so nicht vorgestellt“, sagt er. K. kümmert sich um „seine Leute“. „Ich habe schon viele sterben sehen“, sagt er. „Es ist jedes Mal schrecklich. Manche haben so Angst.“ Erst vor einigen Wochen sei es bei einem Insassen wieder so weit gewesen, den habe er lang im Arm gehalten, gestreichelt und ihm vorgelesen.

Heiligenbilder zieren das Zimmer des mehrfach Verurteilten. Ob er ein gläubiger Mensch ist? „Ich versuche, ein guter Mensch zu sein, und glaube fest daran, dass ich hier irgendwann rauskomme, wenn ich mich bemühe.“ K. wurde nach §23 StGB verurteilt – der Paragraf für gefährliche Rückfallstäter. In 33 Monaten hat er seine 20-jährige Haftstrafe verbüßt, dann wird neu beurteilt, ob er sich gut genug entwickelt hat, um wieder ein Teil der Gesellschaft sein zu können. Insgesamt hat er schon 36 Jahre im Gefängnis verbracht, also mehr als die Hälfte seines Lebens. Ein Leben in Freiheit könne er sich schon kaum mehr vorstellen, aber er träume jeden Tag davon. „Es gibt schon ein paar Dinge, die ich dann machen will“, sagt K. „Einen Mokka will ich trinken. Einen ganz starken. Und ich will auf den Friedhof gehen. Viele alte Freunde und auch manche aus der Familie sind gestorben, ich will mich ordentlich verabschieden.“

Auf einen würdigen Abschied wird hier auf der Wilhelmshöhe geachtet. Ein Pfarrer kümmert sich in den letzten Tagen und Stunden um die Sterbenden. Und dann um die „Angehörigen“– die Mithäftlinge. Es gibt eine Abschiedsfeier in der Kapelle. „Das ist immer sehr schön“, sagt K. „Es sind wirklich alle immer sehr bemüht und sehr nett“ – anders als in der Justizanstalt Stein, wo er vorher war und auch viele sterben sah. „Das war so ein Elend dort.“

„Ja wir bemühen uns, aber ideal ist es noch nicht“, sagt Primarius Knechtel. Es gebe immer mehr alte Häftlinge, aber zu wenig adäquate Betreuung – dafür immer wieder Bestrebungen, die Sonderkrankenanstalt aufzulösen. Das sei ein fataler Fehler, denn der Bereich gehöre ausgebaut, das Personal für Sterbebegleitung und Arbeit mit alten Menschen gut geschult. Sein Traum: ein neuer Trakt, der sich nur der Pflege widmet. Den Status der Sonderkrankenanstalt möchte er behalten, denn so untersteht das Haus der Landesregierung und wird extern geprüft. „Ich will nicht, dass die Justiz das selbst macht. Es ist absurd, sich selbst zu evaluieren, außerdem reißen dann wieder Sachen ein, die ich nicht will.“ Was damit gemeint ist, will er nicht näher ausführen. Er wolle maximale Transparenz und gute Betreuung. „Es gibt vielleicht Menschen, die man nie wieder auf die Gesellschaft loslassen kann, aber wenn wir ihnen schon die Freiheit nehmen, oft über die eigentliche Strafe hinaus, dann gehören sie top betreut.“

Pensionsreform. „Neben der Neuausrichtung des Maßnahmenvollzugs ist auch geplant, die Versorgung geriatrischer Insassen zu verbessern“, heißt es auf Anfrage aus dem Justizministerium. Man versuche, mehr Hafträume barrierefrei zu gestalten und die medizinische Versorgungsdichte zu erhöhen. Derzeit prüfe das BMJ, welche Liegenschaften erweitert oder entsprechend adaptiert werden können. Ob aus der Wilhelmshöhe eine reine Geriatrie wird, wie Knechtel sich das wünscht, ist derzeit unklar. Grundsätzlich könnte sich die Wilhelmshöhe in eine therapeutische Anstalt mit besonderem Betreuungsangebot in Form einer Langzeitbehandlungsstation für (Intensiv-)Pflegebedürftige entwickeln, heißt es. „Der künftige österreichische Strafvollzug sollte dadurch charakterisiert sein, dass diejenigen, die arbeiten oder eine Ausbildung absolvieren können, die Gelegenheit dazu haben. Und diejenigen, die medizinische Betreuung brauchen, diese auch in der bestmöglichen Form erhalten“, sagt Justizminister Wolfgang Brandstetter. „Die Strafvollzugsreform ist ein großes Projekt, das bei vielen Fachbereichen – wie auch der Geriatrie– ansetzen muss, um unseren Strafvollzug wieder nach vorn zu bringen.“

Bis es so weit ist, sitzen die alten Männer der Wilhelmshöhe Tag für Tag beim Kartenspiel zusammen und reden von langen Ehen, träumen von gemeinsamen Frühlingsspaziergängen und versuchen, sich daran zu erinnern, wie ein Mokka in Freiheit schmeckt.

Frauen. 344 Insassen sind mit Stichtag 1.März 2015 älter als 60. Nur 18 davon sind weiblich, die Zahlen sind leicht rückläufig.

Männer. Derzeit sitzen 326 Männer über 60 im Gefängnis, die Anzahl nimmt seit Jahren laufend zu. 2010 gab es 290 männliche Häftlinge in dieser Altersklasse. Der älteste Insasse ist derzeit 91.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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