Warum die Flüchtlinge die ÖBB derzeit (über)fordern

Clemens Fabry
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1,3 Mio. Fahrgäste befördert die Bahn täglich. Nun bringen ein paar Tausend Flüchtlinge das Netz an die Kapazitätsgrenze. Zu tun hat das mit dem intensiv genutzten Fuhrpark, vorgeschriebenen Wartungsintervallen und einigen weiteren Details.

Österreichs Bundesbahnen befinden sich in einer Ausnahmesituation. Der seit fast zwei Wochen nicht abreißende Strom von Flüchtlingen, der sich aus Ungarn kommend vorwiegend in Richtung Deutschland ergießt, treibt das größte Logistikunternehmen des Landes an – und teilweise auch über - die Kapazitätsgrenze. Die Einstellung des Zugverkehrs von Wien nach Ungarn bleibt auch am Wochenende aufrecht, private Helfer und Transportunternehmen wurden am Freitag ausdrücklich gebeten, keine weiteren Personen mehr zum Westbahnhof, dem Drehkreuz für die Weiterfahrt nach Deutschland, zu bringen.

In der Konzernzentrale nimmt man die Sache der Lage entsprechend ernst. Dabei stoßen die ÖBB bei ihren Maßnahmen auch immer öfter auf Unverständnis. Wie, fragen viele, kann es sein, dass ein Unternehmen, dass täglich 1,3 Mio. Fahrgäste befördert, durch ein paar Tausend Flüchtlinge zusätzlich derart ins Wanken gerät? Ein Erklärungsversuch.

Dauer der Ausnahmesituation
Tage, an denen besonders viele Menschen die Bahn nutzen, sind für die ÖBB meistens planbar. Weihnachten ist so ein Fall. Im Rahmen der Vorschriften können dann Servicearbeiten an Lokomotiven und vor allem Wagen und Wendezügen wie den Railjets nach vorne, oder nach hinten verlegt. Für den Zeitraum weniger Tage steht so mehr Kapazität, mehr Wagenmaterial zur Verfügung. Im aktuellen Fall läuft diese Sondermaßnahme inzwischen den zwölften Tag am Anschlag. Vorgeschriebene Wartungen an den Fahrzeugen können nun nicht mehr länger hinausgeschoben werden.

Begrenzte Menge an Wagenmaterial
Der durch vorgeschriebene Wartungsintervalle entstehende Flaschenhals entsteht auch dadurch, dass die ÖBB – anders, als viele vielleicht meinen – nicht unbegrenzt über Zug- und Wagenmaterial verfügen. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Fahrzeuge ist relativ knapp bemessen. Zudem werden die Züge viel intensiver genutzt, als noch zu Zeiten der alten, nicht im Wettbewerb stehenden „Staatsbahn“. Das hat zur Folge, dass es derzeit schon eine Aufgabe ist, die geplanten sechs Sonderzüge, die Flüchtlnge direkt und außerfahrplanmäßig nach Deutschland bringen sollen, rein physisch aufzustellen.

Aushilfe aus dem Ausland (fast) unmöglich
Theoretisch könnten die ÖBB benachbarte Partnerbahnen um Aushilfe bitten. Praktisch geht das nicht. Nur sehr wenige Lokomotiven und Wagons wären auch hierzulande zugelasen. Bis heute ist das Eisenbahnwesen in Europa stark nationalstaatlich geprägt. So gibt es keine europaweit einheitliche Zulassungsmethode für Schienenfahrzeuge. Viele Wagons würden auch nicht den österreichischen Qualitäts- und Komfortstandards entsprechen.

99 Prozent der Flüchtlinge sind für die Bahn „normale“ Kunden mit gültigen Fahrscheinen, die Anspruch auf entsprechende Leistungen haben. Gerade auf der Weststrecke kann auch die niedrige erlaubte Höchstgeschwindigkeit alter Wagons und Züge schnell zum Problem werden, weshalb solche gar nicht erst zum Einsatz kommen. Die Kapazitäten der Verbindung werden derzeit von Personenzügen genützt, die mit 200 bis 230 km/h verkehren. Dazwischen eingeschobene Züge, die vielleicht nur mit 120 oder 140 km/h fahren können, würden das gesamte System durcheinander bringen.

Überschätzte Kapazitäten bestehender Züge
Der Löwenanteil der täglich 1,3 Mio. Fahrgäste bewegt sich im Regionalverkehr. Der für die Flüchtlinge wichtige Fernverkehr in Richtung Deutschland wird vom Wiener Westbahnhof aus jedoch von gerade einmal 32 Zügen täglich bedient. Ein Railjet hat 408 Sitzplätze und knapp 100 Stehplätze. In einen IC-Wagon passen maximal 90 Personen. In anderen Worten: Um die engen Kapazitäten im Fernverkehr nicht völlig zu überlasten, versuchen die ÖBB inzwischen, den Westbahnhof sprichtwörtlich vor zu vielen Fahrgästen zu schützen.

Schlüsselstelle Westbahnhof
Die Sorge am Westbahnhof ist, dass bei zu vielen Personen auf den Bahnsteigen – viele Flüchtlinge übernachten sogar dort – diese irgendwann aus Sicherheitsgründen geschlossen werden müssten. Eine solche Schließung hätte jedoch Auswirkungen auf das gesamte Österreiche Schienennetz, sowie große Teile des Bahnverkehrs der Ostregion. Am Westbahnhof würden dann die fehlenden Bahnsteigkapazitäten zu Zugausfällen führen, die sich bis in die von ihnen angefahrenden Gebiete ausweiten würden.

Genau deshalb haben die ÖBB zur Entlastung des Bahnhofs in der Nacht auf Freitag begonnen, Flüchtlinge vom Auffangzentrum Nickelsdorf mit Bussen nach Graz zu bringen, von wo aus ebenfalls, aber weniger belastete Verbindungen nach Deutschland bestehen.

www.oebb.at

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