Grazer Amokfahrer: Anstalt statt Gefängnis

Ermittlungen nach der Amokfahrt am 20. Juni des Vorjahres in Graz
Ermittlungen nach der Amokfahrt am 20. Juni des Vorjahres in Graz(c) APA/ELMAR GUBISCH
  • Drucken

Die Amokfahrt vom 20. Juni 2015 traf die steirische Hauptstadt mitten ins Herz – und nun soll jener Mann, der durch die Innenstadt raste, gar nicht zurechnungsfähig sein. Laut Gutachten

Graz. Die Amokfahrt von Graz mit drei Toten (darunter ein vierjähriges Kind), 36 zum Teil schwerst Verletzten und 50 Menschen, die akut gefährdet waren, jährt sich am 20. Juni zum ersten Mal. Kurz vor diesem Datum hat das noch immer laufende Ermittlungsverfahren eine dramatische Wendung genommen: Amokfahrer Alen R. ist nicht zurechnungsfähig.

Das sagt jedenfalls ein psychiatrisches Obergutachten des Spezialisten Jürgen Müller vom Fachklinikum Göttingen (Deutschland): R. leide demnach an paranoider Schizophrenie. Auf Basis dieser Expertise kann der 27-Jährige nicht bestraft, sondern „nur“ in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden.
Die Aufenthaltsdauer in einer solchen – geschlossenen – Einrichtung ist offen. Grundsätzlich wird nach einem Jahr überprüft, wie es um den Zustand des Patienten steht. Dann jedes weitere Jahr. Sobald der Betreffende als geheilt gilt, darf er die Anstalt verlassen.

Keine Mordanklage

Wäre R. als zurechnungsfähig eingestuft worden, hätte die Staatsanwaltschaft eine Mordanklage einbringen können. Die Geschworenen hätten den Amokfahrer schuldig erkennen können, eine bis zu lebenslange Gefängnisstrafe wäre die Folge gewesen. Verbunden damit hätte R. zusätzlich in eine Anstalt eingewiesen werden können. Bei dieser Konstellation hätte der Mann erst diese Maßnahme durchlaufen müssen, danach wäre er in Haft überstellt worden.

Theoretisch kann die Anklage immer noch Mordanklage erheben und sich über das von ihr selbst angeforderte Gutachten hinwegsetzen. Dies wäre aber äußerst ungewöhnlich. Theoretisch könnten sich auch Geschworene über einen staatsanwaltlichen Antrag auf Unterbringung in der Psychiatrie hinwegsetzen. Und auf Verurteilung entscheiden. Theoretisch.

Fazit: Mit dem neuen Gutachten wird es eben aller Voraussicht nach „nur“ eine Anstaltseinweisung werden.
Wie hinter den Kulissen zu erfahren war, macht man sich innerhalb der Justiz bereits Sorgen, wie man diese Entwicklung der (Prozess-)Öffentlichkeit erklären soll. Immerhin schildern Dutzende Augenzeugen, unter anderem der Grazer ÖVP-Bürgermeister Siegfried Nagl, dass R. in rasender Fahrt gezielt auf Menschen zugefahren sei. Das klingt so gar nicht nach einer blindlings absolvierten Fahrt durch einen imaginären Tunnel. Ferner ist bekannt, dass der Mann – R. war mit seinen Eltern als bosnisches Flüchtlingskind nach Österreich gekommen – die Fahrt unterbrach, ausstieg, ein junges Paar mit einem Messer attackierte, wieder ins Auto stieg und wieder Gas gab.

Warum bedurfte es überhaupt eines Obergutachters? Nun, diese Entwicklung könnte man fast schon Groteske nennen. R. wurde sofort nach der Fahrt in Gewahrsam genommen, Ermittlungen begannen (auch in Richtung Terror). Der zuständige Staatsanwalt bestellte vorsorglich einen psychiatrischen Gutachter, den in Graz tätigen Peter Hofmann. Als es schließlich um die Frage ging, ob man R. in U-Haft oder in die Psychiatrie bringen sollte, war der Haftrichter am Zug.

Hohe Rückfallgefahr

Er bediente sich eines anderen Gutachters. Dieser, Manfred Walzl, sah vorab keinen Grund, warum R. nicht in U-Haft genommen werden sollte und machte sich dann – ebenso wie Hofmann – an die Arbeit. Als beide Gutachten fertig waren, lag eine für die Justiz unangenehme Pattstellung vor. Hofmann, der „Anklage-Gutachter“ sah R. als nicht zurechnungsfähig. Walzl, der „Richter-Gutachter“, sah, vereinfacht ausgedrückt, das Gegenteil. So brauchte es einen Obergutachter. In einem sind sich alle drei einig: Der Beschuldigte habe die Taten unter dem Einfluss einer geistigen Abartigkeit höheren Grades begangen. Und: Es bestehe die Gefahr, dass R. weiter solche Taten begehe.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Zu seiner Hauptverhandlung im vergangenen September erschien Alen R. im weißen Anzug.
Österreich

Amokfahrer: Endgültige Entscheidung über Strafe Ende Juni

Ob es für den Grazer Amokfahrer Alen R. bei lebenslanger Haft und Einweisung in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher bleibt, liegt beim Wiener Oberlandesgericht.
Archivbild:  Die Staatsanwälte Hansjörg Bacher (links) und Rudolf Fauler vor Beginn des Prozesses gegen Alen R.
Österreich

Amokfahrer-Urteil: Ankläger haben "keine Bedenken"

Die Staatsanwaltschaft erhebt keine Rechtsmittel gegen das Urteil. Wegen der Nichtigkeitsbeschwerde der Verteidigung ist es weiter nicht rechtskräftig.
Szene aus dem Prozess von vergangener Woche, im hellen Anzug der - nicht rechtskräftig - Verurteilte
Österreich

Amokfahrer-Prozess: "Geschworene wissen, was sie tun"

Bei einer ORF-Diskussion verteidigten Justizministerium und Anwälte das Urteil von vergangener Woche.
Themenbild
Österreich

Amokfahrer-Prozess: Wie viel Bauchgefühl verträgt die Justiz?

Der Amokfahrer-Prozess hat der Debatte um die Laiengerichtsbarkeit neuen Zündstoff gegeben. Sind Geschworene ein überkommenes Relikt oder ein nötiges Korrektiv zu einem betriebsblinden Justizapparat? Eine Analyse.
PROZESS NACH AMOKFAHRT IN GRAZ: ALEN R.
Österreich

Geschworenen-Entscheidung gegen Gutachter kein Einzelfall

Bis zu sechs Mal jährlich wird anstelle der ursprünglich beantragten Unterbringung eine Haftstrafe verhängt. Nach dem Amokfahrer-Urteil gibt es dennoch Kritik an der Geschworenen-Gerichtsbarkeit.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.