Roncalli: Zirkusleben, ungeschminkt

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Weißclown Gensi liebt Männer und Opern. Burl, the Bubble Guy, guten Kaffee, sein i-Phone und seine Freundin, die nur selten da ist. Ein Tag hinter den Kulissen des Circus Roncalli auf dem Wiener Rathausplatz.

"Tutto bene?“ – „Benissimo!" Zufrieden winkt Gensi seinen italienischen Kollegen zu. In seinem Leoparden-Bademantel, die Füße in roten Crocs, neben sich ein Topf Sonnenblumen, sitzt der Spanier auf der Treppe seines Wohnwagens in der Morgensonne und genießt seinen Kaffee. Er bietet einen Espresso mit Ingwer an und beginnt von Wien zu schwärmen. Er erklärt, woher die Schwarzspanierkirche ihren Namen hat (von den spanischen Benediktinern von Montserrat, den „Schwarzspaniern“), und dass er unbedingt in die Zauberflöte will, und ins Belvedere.

Seit wenigen Tagen gastiert der Circus Roncalli auf dem Wiener Rathausplatz. Die ersten Vorstellungen sind ausverkauft, die Show ist grandios. Doch dort zeigt der Zirkus nur sein geschminktes Gesicht. Wie sieht es wirklich aus?


Kunstliebhaber. Zum Beispiel wie das von Gensi: ein zierlicher, schwuler Kunstliebhaber aus Barcelona, der eigentlich vom Theater kommt. Vor vier Jahren ließ er sich mit Kollegen als Clown engagieren. Die anderen gingen wieder, er blieb. Und findet es schön. „Man sieht Städte, erlebt Stimmungen“, sagt er – und verschwindet, um sich anzuziehen.

Auch Darren Burrell ist gerade erst aufgestanden. Er sitzt in seinem alten, holzgetäfelten Wagen am Laptop und sieht sich die Rede seines Präsidenten an. Barack Obama spricht über die Gesundheitsreform. Burrell trägt Polo und Cargo-Shorts und sieht aus wie der, der er früher einmal war: ein amerikanischer Computerverkäufer. Dann ging er zur Clownschule. Warum? „Weil ich ein lausiger Computerverkäufer war.“ Und dabei nicht glücklich. Dann kamen die Seifenblasen, die Kinder liebten das, und er hatte sein Metier gefunden. Als Burl, the Bubble Guy. Zehn Jahre dauerte es, bis sein Vater das akzeptieren konnte.

Bis er seine geheimen Flüssigkeiten präparieren muss, hat Burl noch Zeit. Die er am liebsten vor dem nächsten Internetcafé verbringt, mit einem guten Kaffee. Auf dem Bett hinter ihm, das fast den ganzen Wagen ausfüllt, liegt seine Grundausstattung: Sonnenbrille, i-Phone, Stadtplan. Burl hustet, spült eine Aspirin-Tablette mit kaltem Kaffee hinunter. Kranksein gibt es im Zirkus nicht, das ist der eine Nachteil. Der zweite: immer einen Waschsalon finden zu müssen. Den er dann mit seinem Wäschesack per Fahrrad ansteuert.

Der 42-jährige Amerikaner weiß, welche Konkurrenz der Zirkus heute hat. „Aber man kann den Kindern zeigen, dass es andere Dinge als Videospiele gibt.“ Dass Teenager anderes im Kopf haben, ist für ihn klar. „Aber wenn sie einmal selbst Eltern sind, werden sie ihre Kinder bringen. Und der Zirkus wird sie wieder mit ihrer eigenen Kindheit verbinden.“


Lieber hier als arbeitslos. Auf dem Rathausplatz herrscht mittlerweile Mittagsstille, die großteils historischen Wagen liegen in der Sonne, über allem schwebt der Geruch von Popcorn, Zuckerwatte und Sägespänen. Eine Tür steht offen, eine Frau steht am Bügelbrett. Ein paar Schritte weiter sitzt eine rundliche Frau mit grauem Kurzhaarschnitt im Eingang zu ihrem Wohnwagenabteil und isst. Drinnen ist dazu kein Platz, sie wohnt auf gerade einmal vier Quadratmetern. Marion Hillmann ist Archivarin, hat beim deutschen Axel-Springer-Verlag gearbeitet. Seit eineinhalb Jahren verkauft die 48-Jährige hier Tickets. „Bevor ich arbeitslos zu Hause sitze, bin ich lieber mit dem Zirkus unterwegs“, erklärt die Deutsche, bevor sie sich auf den Weg zur Kasse macht.

Langsam beginnen die Vorbereitungen für die Vorstellung. Gensi, der Spanier, schminkt sich, malt sein Gesicht weiß an, zieht einen Lidstrich, färbt seine Nasenspitze rot. Und stellt dabei ununterbrochen Fragen. Wer hat den Brunnen am Neuen Markt gebaut? Und wer das Belvedere? Er spielt ein Quiz mit uns, tick tack, tick tack, die Zeit läuft. Ob er eigentlich nervös ist vor der Vorstellung? Immer, sagt er. „Denn das Publikum ist jeden Tag neu.“

14.30 Uhr. Im Stall bürstet die 19-jährige Michi die Ponys. Sie kommt aus Bayern, ihre Eltern haben einen Reitstall. Sie hat nach dem Abitur im Internet gelesen, dass der Zirkus jemanden sucht, zum Füttern, Putzen, Ausmisten. Sie hat erst einmal für eine Saison unterschrieben und die Entscheidung – Lehre? Studieren? – auf später verschoben, ihrem Traum zuliebe. Es sei schöner als erwartet. „Wie eine Familie.“


Das Ende? Die Ponys sind die einzige verbliebene Tiernummer. Am Anfang der Zirkustradition standen die Pferde, die Rösser der englischen Königsgarde. Markieren Pferde jetzt auch das Ende der Zirkusära? Im Zelt sieht es nicht danach aus. 20 vor drei ist das schon ziemlich voll. Großeltern mit kleinen Kindern, Stimmengewirr dringt durch den roten Vorhang. Dahinter sammeln sich die Requisiteure. Victor Minasov, ein Russe aus einer alten Artistenfamilie, wärmt sich mit Klimmzügen im Bademantel für seine Gummiballnummer auf. Starclown David Larible sitzt und pfeift. Dann geht es los.

Sascha aus Köln kennt jeden Takt, er ist konzentriert und wachsam und weiß, wann er losrennen muss, um den Teppich einzurollen oder die Ponyrampe in die Manege zu tragen. Der 33-Jährige ist gelernter Automechaniker, hat bei Cartier und Bulgari als Wachmann gearbeitet. Auch der ehemalige Bodyguard sagt: „Ich war schon immer zirkusverrückt.“ Jetzt, da seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hat, sei das der perfekte Ort, um sich abzulenken.


Liebe und Abschied. Bei Sascha lindert der Zirkus den Kummer, oft ist es umgekehrt. Weißclown Gensi hat heuer geheiratet. Bis 22. September ist sein Mann noch da, dann muss der spanische Tenor zurück nach Barcelona. Der Abschied wird schwer fallen. „Aber wir sind Künstler, da ist das so.“

Inzwischen ist Burl an der Reihe, bei den ersten Seifenblasen geht ein Raunen durch das Zelt. Unter den Rängen treffen ein Requisiteur in roter Uniform und eine dunkelhaarige Artistin aufeinander, ein Kuss, noch ein sehnsüchtiger Handkuss, dann eilen sie in getrennte Richtungen davon. Glücklich, wer seine Liebe im Zirkus findet. Ansonsten muss die Liebe zum Zirkus reichen.

Was ist es, das die Menschen so fasziniert? Die Wiener Gesellschaft hatte sich um die Premierenkarten gerissen. Ein italienisches Fernsehteam ist da und filmt, der Montag gehört der Kinocrew. Pressesprecher Markus Strobl organisiert mit einer Frauenzeitschrift das Modeshooting für den nächsten Tag. „Model mit Ponys beim Popcorn? Kommt nicht infrage, das passt nicht zu uns.“

Auch Strobl ist süchtig nach dem Zirkus. Als er fünf war, führte ihn Roncalli-Direktor Bernhard Paul durch sein Reich, seither ist er der Manege verfallen. Und machte doch erst anderswo Karriere. Als Kind begann er als Schauspieler; er moderierte Radio und Kindersendungen auf Kinderkanal und Nick; er adaptierte Fernsehformate für den deutschen Markt, mit seiner Band war er Vorgruppe von Juanes. Und dann sprach der Zirkusdirektor und erklärte, der 32-Jährige müsse zum Zirkus kommen und diesen in das neue Medienzeitalter führen. Und Strobl kam.


Lachtonbänder. Seit Jahresbeginn ist der Münchner mit unterwegs. „Viel gereist bin ich schon früher, jetzt brauche ich keine Koffer mehr.“ Strobl saust herum, schäkert mit den Artisten, telefoniert dabei ständig und ist trotzdem entspannt. Dass Kinder auch in Zukunft Zirkus mögen werden, daran glaubt er. Deshalb will er mithelfen, diese alte Tradition zu wahren. „Ein echter Salto ist besser als Special Effects. Und was gibt es in der heutigen Zeit Gesünderes als Lachen?“ Die Leute zum Lachen zu bringen, das müsse man aber erst einmal können. „Im Fernsehen hat man Lachtonbänder. Aber hier geht das nicht. Und kein Kind interessiert sich dafür, wie viele Auszeichnungen David Larible hat. Er muss sich jeden Tag aufs Neue beweisen.“

Trotz allem, auch im Fernsehen. „Du musst zum Tigerenten Club“, versucht Strobl den Clown zu überzeugen. Larible verzieht das – ungeschminkte – Gesicht: Er hat an diesem Tag ein Familientreffen in Italien. Dennoch hält er den Zirkus für den schönsten Platz der Welt. „Weil nur hier Erwachsene und Kinder zur selben Zeit lachen.“

Als um halb sechs die Menschen aus dem Zelt strömen, spielen die Beatles gerade „A Hard Day's Night“. Doch noch ist die Nacht nicht da, noch steht eine weitere Vorstellung bevor. Danach werden manche Artisten ins Bett gehen und andere in die Disco; es wird ein anstrengender Tag gewesen sein, und doch auch ein guter. Weil wieder ein paar hundert Kinder Gelegenheit hatten, den Zirkus lieben zu lernen.

in Österreich

Wien: Bis 18. Oktober gastiert der Circus Roncalli auf dem Wiener Rathausplatz. Am 20. September ist von 10 bis 12 Uhr „Interaktiver Tag der offenen Tür“. Am 4. Oktober ist von 10 bis 12 Uhr der Kinderzirkus Giovanni zu Gast.

Graz: Von 23. Oktober bis 15. November ist Roncalli erstmals in Graz.

Linz: 22. November bis 12. Dezember.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2009)

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