Helfer bei Seenot: Flüchtlinge "wissen nicht, was sie erwartet"

Michael Kühnel war für das Rote Kreuz zum achten Mal auf Auslandseinsatz.
Michael Kühnel war für das Rote Kreuz zum achten Mal auf Auslandseinsatz.Clemens Fabry / Die Presse
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Der Wiener Arzt Michael Kühnel versorgte für das Rote Kreuz Flüchtlinge, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind. An der afrikanischen Küste warten noch immer Tausende auf eine Überfahrt.

Wien. Am stärksten sind ihm die drei kleinen Mädchen in Erinnerung geblieben. Geschwister im Alter von zwei, neun und elf Jahren, die das Rote-Kreuz-Team aus dem Mittelmeer gefischt hat. Die Mutter hat es nicht geschafft, sie ist ertrunken. Drei kleine Waisenkinder, die sich nun in einer neuen Welt zurechtfinden müssen, in einem Land, in dem sie weder Sprache noch Kultur kennen. Erst ein Clowndoktor in Sizilien schaffte es, die Mädchen zum Lächeln zu bringen. Es war das erste Mal nach zwei Tagen.

In die Statistik werden diese drei Mädchen als Zahlen eingehen. Drei von insgesamt 1100 Flüchtlingen, die der Wiener Rot-Kreuz-Arzt Michael Kühnel zwischen dem 12. und 27. November versorgt hat. Mehr als tausend Menschen in gerade einmal drei Wochen.

Auch wenn nicht mehr jeden Tag Berichte in der Zeitung zu lesen sind, versuchen noch immer jeden Tag Flüchtlinge über die Mittelmeerroute nach Europa zu kommen. Kühnel und sein Team waren Teil der Rot-Kreuz-Rettungsmission, die mit zwei Schiffen – der Responder und der Phoenix – vor der Küste Libyens Flüchtlinge aus ihrem maroden Booten retteten. Seit Juni dauerte die Mission. Rund 8000 Menschen konnten geborgen werden. Gleichzeitig starben zwischen Jänner und Oktober 2016 mehr als 3500 Menschen bei der Überquerung. Im Schnitt sind das 13 Menschen pro Tag. Deutlich mehr als im vergangenen Jahr, sagt das Rote Kreuz. Die Sorge, ein gekentertes Schiff zu finden und Hunderte Tote in Leichensäcke einpacken zu müssen, war es auch, die Michael Kühnel anfangs begleitet hat. Nicht immer sind die kleinen Boote in den Wellen leicht zu erkennen.

Zwei Tote an Bord

Doch das Team der Responder sollte nie in diese Situation kommen. Nur zwei Personen starben an Bord des Schiffes selbst. Wie viele ertranken, könne er nicht sagen, so Kühnel. Meist fanden sie die Menschen, noch bevor die Schiffe kenterten. Wenn auch die Passagiere in einem erbärmlichen Zustand waren. Dehydriert, unterkühlt und teilweise – wenn das Boot doch schon gesunken war – mit starken Verätzungen am Körper. Das, erklärt Kühnel, ein mehr als 1,80 großer Hüne, habe mit den Chemikalien zu tun, die dem Treibstoff der Schlepper-Gummiboote beigemischt werden. Die Boote sollen so länger fahren. Wenn sie allerdings kentern, ätzt das Gemisch den Flüchtlingen die Haut weg oder ruiniert, wenn sie es schlucken, die Lunge. Innerhalb kurzer Zeit müssen er und sein Team von fünf Personen die Menschen untersuchen und versorgen. Zeit ist ein knappes Gut. Was dem einen gewidmet wird, fehlt den anderen. Wenn er nicht im Einsatz war, hat er so viel wie möglich gesessen, getrunken und geschlafen, erzählt er. Man hätte ja nie gewusst, wann der nächste Aufgriff sei. Einmal an Bord werden die Menschen zur Sicherheit nach Waffen untersucht, Zigaretten und Feuerzeug weggenommen. „Es gibt nichts, was ein Kapitän mehr fürchtet als Feuer“, erzählt Kühnel. Danach werden den Menschen Notfalldecken gegeben und Kekse. Es ist die einzige Nahrung, bis das Schiff Italien erreicht. Rund eineinhalb Tage dauert die Fahrt dorthin. Kühnel hat in dieser Zeit den Geruch von Kot, Urin und Erbrochenem in der Nase. Auf den Schlepperbooten gibt es keine Toilette. An Bord der Responder können die Menschen nicht duschen.

Er erzählt seine Eindrücke mit ruhiger Stimme. Achtmal war der 41-Jährige bereits als Rot-Kreuz-Arzt im Ausland. Seine Arbeit tut er mit Überzeugung. Die sieben Grundsätze des Roten Kreuzes hat er sich in sieben Sprachen auf den rechten Oberarm tätowieren lassen. Doch auch er hat keine Antwort, wie man die Flüchtlingskrise beenden kann. Er wolle mit seiner Arbeit ein Zeichen setzen und Menschen ohne Vorurteil helfen, sagt er.

Doch genau das sorgt auch für Kritik. Immer wieder gibt es den Vorwurf, dass genau die Hilfsaktionen von NGOs das Schlepperwesen befeuern. Kühnel argumentiert dagegen. „Welche Angst muss ich haben, um mit einem Baby so eine Überfahrt zu wagen?“, fragt er. Der Großteil der Geretteten kommt aus Afrika, aus Nigeria, wo die Terrororganisation Boko Haram ihr Unwesen treibt, dem Südsudan, Libyen, Mali, vereinzelt auch aus Syrien. Geschätzte 80 Prozent waren junge Männer, rund 20 Prozent Frauen und Kinder, davon 434 Schwangere.

Die Schlepper scheinen jedenfalls damit zu rechnen, dass die Menschen aufgegriffen werden. Für die mehrtägige Fahrt von der libyschen Küste nach Europa bekommen sie nur einen halben Liter Wasser mit. Auch der Treibstoff reicht bei Weitem nicht, um die Distanz zu bewältigen.

Die Mission der Responder ist am Sonntag zu Ende gegangen. Einerseits, weil das Geld ausgegangen ist, andererseits, weil die Schlepper im Winter weniger übersetzen. Aber sie hören nicht auf. Es werden weiter Menschen sterben. Eine unbekannte Zahl an Toten im Meer, von denen niemand wisse, sagt Kühnel. Denn drüben im Libyen, erzählen jene, die es geschafft haben, warten noch Tausende Menschen auf ihre Chance. „Und die wollen um jeden Preis kommen“, sagt Kühnel, „weil sie hoffen, dass alles gut ausgeht. Weil sie nicht wissen, was sie auf der Reise erwartet.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2016)

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