„Todeslaster“-Prozess: Bandenvize belastet Schlepperboss

Der Hauptverdächtige und mutmaßliche Boss der Schlepperbande, der Afghane Samsooryamal L., bei der Eröffnung des Prozesses am Mittwoch. Dabei trat er mit einer Tafel auf, auf der stand, er sei „Muslim, kein Mörder“.
Der Hauptverdächtige und mutmaßliche Boss der Schlepperbande, der Afghane Samsooryamal L., bei der Eröffnung des Prozesses am Mittwoch. Dabei trat er mit einer Tafel auf, auf der stand, er sei „Muslim, kein Mörder“.(c) AFP
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Der „Vize“ der Schlepperbande, welcher der Tod von 71 Menschen in einem Kühlwagen im Sommer 2015 angelastet wird, warf dem afghanischen Chef Gier vor.

Kecskemét/Budapest. Im Prozess in der südungarischen Stadt Kecskemét um den Transport von 71 Flüchtlingen im August 2015 in einem Kühlwagen, bei dem alle davon auf dem Weg von Ungarn nach Österreich grausam starben, schwiegen die beiden Hauptangeklagten am Donnerstag weitgehend. Der mutmaßliche Boss der Schlepperbande – ein 30-jähriger Afghane, der 2013 als Asylwerber gekommen war – sowie ein Bulgare (30), der sein Vize sein soll, wollten nur reden, wenn erst die anderen acht vor Gericht stehenden Männer (ein weiterer ist flüchtig) ausgesagt haben würden. Letztlich las Richter Janos Jadi die Vernehmungsprotokolle von Polizei und U-Richter vor.

Dabei zeigte sich: Der „Vize“, Metodi G., hat darin seinen Boss, Samsooryamal L., schwer belastet. Der, seit angeblich mindestens 15 Jahren im Schleppergeschäft tätig, sei „zu gierig“ geworden. Anfangs hätten beide gemeinsam „Autogeschäfte“ gemacht, bis L. anno 2015 Schlepperfahrten vorgeschlagen habe: Er selbst, so G., solle Fahrer suchen. Und so habe man mit bulgarischen Fahrern Transporte von Serbien nach Deutschland organisiert. Die Fahrzeuge – Kleintransporter oder kleine Lkw– kaufte ein 52-jähriger Bulgare mit libanesischen Wurzeln billig ein; sei eines defekt geworden, habe man es samt den Flüchtlingen darin einfach abgestellt. In die Wagen habe man anfangs 30 bis 35 Personen gesteckt, es seien auf Druck des Afghanen immer mehr geworden, bis zu 100 Leute.

„Wäre mein Todesurteil gewesen“

Vor der Todesfahrt, die am 26. August in Südungarn begann, will der Vize gewarnt haben, dass der Kühllaster nicht tauge, weil die Hintertür luftdicht schließe, und höchstens Platz für 50 Menschen biete. Es kam zum Streit, denn der Boss wollte sich das Geschäft nicht verderben lassen. Im Übrigen verstehe er ob seiner langen Praxis mehr davon.

„Was hätte ich machen können?“, so der Vize im Protokoll. „Wenn ich den Laster gestoppt hätte, hätte ich mein Todesurteil unterschrieben.“ Der Afghane wäre ja auch um 100.000 Euro „umgefallen“. Letztlich habe man 71 Menschen (Afghanen, Syrer, Iraker, Iraner, darunter vier Kinder) in den Wagen gezwängt. Etwa eine Stunde später, noch in Ungarn, meldete der Fahrer Probleme mit der „Fracht“, die Menschen klopften und schrieen. Aus Angst vor Polizei fuhren der Lkw-Lenker und der Fahrer eines „Aufklärers“ voraus weiter, bis sie es, nachdem sich hinten irgendwann nichts mehr rührte, mit der Angst bekamen, den Wagen an der Ostautobahn im Burgenland abstellten und zurückfuhren. Tags darauf, am 27. August, fanden Polizisten den Laster und öffneten ihn.

Die Bande war polizeibekannt und von den Ungarn abgehört worden. Daher gab es bereits am 27. August erste Verhaftungen im Raum Kecskemét. Laut Anklage sollen die Männer von Februar bis August 2015 mindestens 1200 Menschen geschleppt und über 300.000 Euro kassiert haben. Die Telefonmitschnitte zeigen, dass die Fahrer von der Todesgefahr für die Reisenden wussten. Vier der elf Männer sind wegen Mordes unter besonders grausamen Umständen angeklagt, die übrigen wegen organisierter Schlepperei und Lebensgefährdung, es geht um Strafrahmen von bis zu 20 Jahren und lebenslänglich.

Vorwürfe an die Polizei

Die Tatsache, dass die Angeklagten abgehört worden waren, hat manche Medien verleitet, den Behörden Mitschuld am Tod der Menschen zu unterstellen: Man hätte ja eingreifen können. Allerdings hatte es lange gedauert, die vielen Gespräche auf Bulgarisch, Serbisch und Paschtun zu übersetzen und auszuwerten. Auch gab es bei früheren Fahrten keine Opfer. Und vom Start am 26. August bis zum Tod aller Flüchtlinge waren höchstens drei Stunden vergangen, wobei jene Anfrage des Fahrers, die als Indiz für ein Desaster dienen kann, erst gegen Ende dieses Zeitraums erfolgte. Das Handy-Gespräch war aber nur automatisch aufgezeichnet worden, um später übersetzt zu werden. Die Behörden hatten also diesbezüglich keine Chance.

Richter Jadi setzte weitere Prozesstage fest. Sie verteilen sich bis Ende August. Die Urteile sollen noch heuer ergehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2017)

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