Obdachlose Ausländer: Alarm in Wien

(c) AP (Ronald Zak)
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Wien verwehrt 300 Obdachlosen den Zutritt in Notschlafstellen. Es sind meist Ausländer aus der neuen EU. Laut Rathaus will es das Gesetz so. In der Steiermark sieht man das anders.

Wien ist die „sozialste Millionenstadt“ der Welt, stellte SP-Gemeinderat Kurt Stürzenbecher einst fest. Sechs Jahre später stufte Sozialstadträtin Sonja Wehsely in einer Aussendung das soziale Netz von Welt- auf Kontinentalniveau („das dichteste Europas“) zurück. Tatsächlich spielt Wien Landesliga: Erst dieser Tage wurde der Gemeinde klar, dass man von der angeblichen Vollversorgung sozial Bedürftiger – die Behörde spricht von 5000 Klienten in der Wohnungslosenhilfe – weit entfernt ist. Seit Besetzung des Audimax durch Studenten und Obdachlose (siehe unten) ist es quasi amtlich, dass es – anders als in anderen Bundesländern – wenigstens 300Menschen gibt, denen der Zutritt zu Notschlafstellen verwehrt ist. Schuld daran, so das geführte Rathaus, sei das (von der SP-Mehrheit beschlossene) Wiener Landessozialgesetz.

Angst vor „Sozialtourismus“

Stephan Rebel ist einer der Betroffenen. Der 44-Jährige ist Deutscher und damit – wie fast alle anderen Mitglieder seiner Schicksalsgemeinschaft – EU-Ausländer. Einst als Projektleiter weltweit für General Electric tätig, brachte ihn die Liebe zu einer Österreicherin ins Land. Die Beziehung scheiterte. Und wie bei vielen seiner Leidensgenossen war die Trennung von einer Frau der Anstoß zum Fall in die Obdachlosigkeit. Weil er hierzulande und an seinen früheren Dienstorten nicht lange genug versichert war, hat er – laut Rechtsinterpretation des Rathauses – keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Bei den Notschlafstellen wird er regelmäßig abgewiesen. Begründung: „Ausländer? Dürfen wir nicht nehmen.“

Dabei geht es Rebel noch verhältnismäßig gut. Er ist gebildet, spricht Deutsch und weiß sich zu helfen. Die Mehrzahl der übrigen Rechtlosen stammt aus den neuen EU-Staaten Polen, Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Viele von ihnen, sagt Hedi Scheiner, Leiterin der von der Stadt unabhängigen Notschlafstelle VinziBett, kamen vor der Osterweiterung, manche gar vor dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Wien. Die meisten lebten als „U-Boote“, kamen bei österreichischen Frauen, Bekannten oder Verwandten unter, schlugen sich (bis zuletzt) ohne gültige Aufenthaltstitel und mit Schwarzarbeit durch. Wollen sie die Herbergsgeber, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr, bleibt nur noch die Straße.

„Das Problem“, sagt Scheiner, „ist, dass diese Leute völlig rechtlos sind und im Gegensatz zu Asylwerbern keine Vertretung haben.“ Nur bei VinziBett, das aus allen Nähten platzt, bekommen sie in kalten Nächten Unterschlupf, weil die Einrichtung kein Geld von der Stadt nimmt und sich deshalb auch nicht an deren Förderbedingungen halten muss.

Der Hintergrund für die strenge Auslegung des Wiener Sozialgesetzes ist die Furcht vor „überbordendem Sozialtourismus“ aus dem Osten. Eine Angst, die sich im steirischen Sozialgesetz (die Sozialgesetze sind Ländersache; Anm.) nicht niederschlägt. Südlich des Semmerings haben nämlich ausnahmslos alle legal aufhältigen EU-Ausländer Anspruch auf Sozialleistungen. Und tatsächlich, so heißt es in der Steiermark, könne man bis heute nichts von einem „überbordenden Sozialtourismus“ bemerken.

Gänzlich unbegründet ist die Wiener Sorge jedoch nicht. Eine aktuelle Umfrage unter Obdachlosen in Hamburg zeigt, dass der Ausländeranteil seit 2002 von 17 auf 27 gestiegen ist (für Wien gibt es keine genauen Zahlen). Die Geschichten hinter den Schicksalen sind die gleichen wie hier: Inzwischen legal aufhältige Männer aus den neuen EU-Staaten scheitern privat und/oder beruflich und landen auf der Straße. Auch Hamburg gewährt diesen Menschen keine Sozialleistungen. Um dem Problem Herr zu werden, denkt der Stadtsenat über die Einführung von finanziellen Anreizen für die Rückkehr in die Heimat nach. Theoretisch sind nach den Buchstaben des EU-Rechts sogar Ausweisungen möglich.

Für den als Grazer „Bettlerpfarrer“ bekannt gewordenen Wolfgang Pucher ist das keine Lösung. Er weiß aus persönlichen Gesprächen, dass viele der heimischen Betroffenen in ihrer alten Heimat keine Basis mehr haben. „Oft sind sie schon so lange von zu Hause weg, dass Freunde und Verwandte fehlen, manchmal sogar die sozialen Ansprüche verfallen sind.“

Würstel für Selbsthilfe

Bei der Wiener Caritas ist man der Meinung, dass eine nachhaltige Aufklärung vor Ort, also in Osteuropa, so manchen davon abhalten könnte, nach Österreich zu kommen. „Wenn man den Leuten erklärt, dass die Perspektiven hierzulande nicht rosig sind, werden es sich einige wieder überlegen“, glaubt Bettina Schörgenhofer, Leiterin der Wohnungslosenhilfe. Den Leuten, die schon hier sind, ist das kein Trost. Deshalb arbeitet die Wiener Caritas an einem Konzept für eine Notschlafstelle für Ausländer, und zwar in Abstimmung mit der Stadt Wien. Gemeinsam ist man optimistischer, die Lücke im Gesetz zu finden.

Die Betroffenen selbst haben den Glauben an eine rasche Lösung längst verloren. Einige von ihnen werden – aus Furcht vor dem Winter – nun selbst aktiv und haben unter Anleitung von Stephan Rebel die „Initiative obdachloses Europa in Wien“ gegründet. Das erste Projekt wollen sie unter der Patronanz der VinziWerke am Nepomuk-Berger-Platz (Ottakring) umsetzen. Gemeinsam wurde ein Würstelstand angemietet, der ein paar obdachlose EU-Ausländer anstellen und damit versichern soll. Dabei wartet allerdings der nächste rechtliche Stolperstein: Die Beschäftigung von Bürgern aus den neuen EU-Staaten unterliegt strengen Bestimmungen.

AUF EINEN BLICK

300Obdachlose werden in Wien auch bei Notschlafstellen abgewiesen. Es handelt sich um EU-Bürger, die hierzulande nur kurz versichert waren und laut Stadt Wien daher keinerlei Ansprüche haben. In der Steiermark ist das kein Problem, dort haben auch EU-Bürger Anspruch auf Hilfe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2009)

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