Zwentendorf-Besichtigung: Eine Reise ins Atomzeitalter

ZwentendorfBesichtigung Eine Reise Atomzeitalter
ZwentendorfBesichtigung Eine Reise Atomzeitalter(c) Norbert Rief (Norbert Rief)
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360 Grad Österreich: Nach mehr als 30 Jahren öffnet das nie in Betrieb gegangene Atomkraftwerk Zwentendorf erstmals seine Türen für die Öffentlichkeit. Ab kommenden Freitag gibt es wöchentlich Besichtigungstouren.

Johann Fleischer ist ein recht normaler Mensch. Man muss das dazusagen, weil der 53-Jährige seit 2002 „Anlagenbetreuer“ im stillgelegten Atomkraftwerk in Zwentendorf ist. Die meiste Zeit davon verbrachte er ganz allein in dem riesigen Bau mit seinen 1050 fensterlosen Räumen. Jack Nicholson genügte in „Shining“ eine Wintersaison als Hausmeister in einem leeren Berghotel, um völlig durchzudrehen.

Die Zeiten der einsamen Runden – interessantes Detail: Fleischers Hund Leonie wagte sich nie in das AKW, sie wartete immer draußen – sind vorbei. Bald wird der Techniker wöchentlich mehr Menschen sehen als in den vergangenen acht Jahren zusammen: Denn nach 32 Jahren öffnet das Atomkraftwerk erstmals seine Türen für die Öffentlichkeit. Ab kommenden Freitag kann man jede Woche eine Besichtigungstour durch das einzige, fixfertig gebaute, aber nie in Betrieb gegangene AKW der Welt machen.

Was heißt eine Tour? Eine Zeitreise! In einem perfekt erhaltenen, unfreiwilligen Museum zurück in die 1970er-Jahre, als ein PVC-Boden der allerletzte Schrei und die Atomspaltung noch gut war.


Abstimmung 1978. Oder doch nicht. Denn der Angst von 1.606.308 Österreichern (50,47 Prozent der Abstimmenden) verdankt Fleischer seine jahrelange Einsamkeit. Sonst wäre er wahrscheinlich schon Cheftechniker aller drei damals in Österreich geplanten AKW: Neben Zwentendorf wollte man auch an der oberösterreichisch-niederösterreichischen Grenze eines errichten und eines in St. Andrä in Kärnten, wo übrigens noch immer 25 Hektar Land für ein Kernkraftwerk gewidmet sind.

Als die Volksabstimmung am 5. November 1978 unter Bundeskanzler Bruno Kreisky gegen die Inbetriebnahme des AKW ausging, saßen 200 Techniker geschockt vor den Schwarz-Weiß-Fernsehern. Sie waren jahrelang in Deutschland und den USA ausgebildet worden, und dann entzog ihnen das Volk plötzlich die Arbeitsstätte, an der man vier Jahre gebaut und Kosten von insgesamt einer Milliarde Euro verursacht hatte.

Bis 1985 hielt die Betreibergesellschaft den Bau „warm“. In der Hoffnung, dass sich die Politik vielleicht doch über den Volksentscheid hinwegsetzt. Mit Tschernobyl platzte dieser Traum endgültig. Die Gesellschaft wurde aufgelöst, einer der beiden Geschäftsführer beging Selbstmord, der andere baute künftig Windkraftwerke. In Zwentendorf schaltete man das Licht aus, schloss die Türen und schuf ein „Dornröschenschloss“, wie es EVN-Sprecher Stefan Zach so schön nennt. Jetzt wecken die EVN, seit 2005 Besitzer des AKW, Dornröschen auf.

„Links sind die Duschen, da hätte jeder Arbeiter durchmüssen. Und das hier ist das Strahlenmessgerät.“ Wahrscheinlich funktioniert es sogar noch, so wie die Duschen, die 13 Waschbecken oder auch die Warnlampen in der Schaltzentrale, die Defekte anzeigen, die niemanden interessieren.

Das AKW ist in einem bemerkenswert gut erhaltenen Zustand. Kaum Rost, von den Wänden bröckelt kein Verputz, die Ringe für die Schnellabschaltung lassen sich noch immer drehen, sogar die Gummidichtungen sind eingefettet. Nur unten riecht es nach Feuchtigkeit, weil die warme Luft an den 1,2 Meter dicken, kalten Stahlbetonwände kondensiert. Die eingebaute Klimaanlage nahm man nie in Betrieb.

Zu verdanken ist das nicht unwesentlich der Arbeit Fleischers, der an diesem Tag Lehrlinge der EVN durch das Haus führt. Er hielt die Anlage in Schuss. Heute ist in Zwentendorf noch alles so wie bei fünf baugleichen AKW in Deutschland. Mit dem Unterschied, dass die Strom produzieren.


Loch im Kühlmantel. „Könnte man es in Betrieb nehmen?“, fragt sich Zach selbst. „Nein.“ Einerseits, weil die deutschen AKW Zwentendorf als Ersatzteillager nützen und etwa zehn Prozent der Anlage schon fehlen. Andererseits „wegen Fleischer“, wie Zach hänselnd meint: Der schnitt nämlich für die Führungen eine Tür in die Kondensationskammer des Reaktors.

Vorbei geht es an riesigen Pumpen, die pro Sekunde 30.000 Liter Donauwasser zum Kühlen durch die Anlage geschleust hätten, an leeren Röhren für die Brennstäbe, hinauf zum Reaktorschacht, der sich 39 Meter über dem Boden befindet. Interessiert blicken die Lehrlinge in das tiefe Loch, das sich in der Dunkelheit verliert. Stillgelegt sieht es recht unspektakulär aus. Im Betrieb hätte hier die Strahlung von knapp 500 Uranbrennstäben, die Hitze bis zu 4000 Grad Celsius produzieren, das Wasser des Beckens blau leuchten lassen. Dass dem nicht so ist – naja. Fleischer ist über die Jahre zu einem Befürworter der Kernenergie geworden. „Grundsätzlich hätte hier eigentlich nichts passieren können“, sagt er.

Dafür hätten unter anderem die Herren im Herzstück des Kernkraftwerks sorgen müssen, in der Schaltwarte, die aus der Kulisse früher „Raumschiff Enterprise“-Serien stammen könnte. Kleine Monitore von Grundig, eine Wand an Schaltern, Warnleuchten, Druckanzeigen sowie vier Telefone neben zwei Sesseln. Eines davon mit rotem Hörer. Das war die direkte Leitung ins Bundeskanzleramt. Auf dem Tisch liegen noch die Schichtbücher der vergangenen Jahre, ein anderes zeigt Wartungseinträgen aus dem Jahr 1977.

Sie sind einige der Exponate, die übrig geblieben sind. Die Uhren im Atomkraftwerk haben die Jahre nicht überstanden. Es gibt keine einzige mehr. Vermutlich wurden sie zu Souvenirs. Wie das Arbeitsbuch aus dem Jahr 1978. Es fehlt erst seit einigen Wochen. Aber die wirklich interessante Seite hat man schon Jahre zuvor herausgerissen: die Diensteinteilung vom 5. November 1978.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2010)

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