Der Radverkehr nimmt langsam Schwung auf

Radverkehr nimmt langsam Schwung
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Fehlplanungen und Politgezänk bremsten Österreichs Radfahrer im internationalen Vergleich bisher aus. Trotzdem satteln immer mehr um und auf. Was sie anspornt, begeistert und stört, erzählten sie der "Presse".

Um die Aussicht, die Martin Krainer von seinem Arbeitsplatz aus genießt, beneiden ihn viele. Langsam und lautlos ziehen die Fracht- und Kreuzfahrtschiffe auf der Donau am Fenster seiner Werkstatt vorbei. Umgeben von Fräsen, Innensechskantschlüsseln und jeder Menge Spezialwerkzeug hantiert der 26-Jährige an einem Mountainbike und sagt: „Obwohl die Radshops wie Pilze aus dem Boden schießen, habe ich hier von Jahr zu Jahr mehr zu tun.“ So viel, dass die Wirtschaftskammer inzwischen überlegt, den in den 1970ern abgeschafften Lehrberuf des Fahrradmechanikers wiederzubeleben.

Krainers persönliche Erfahrungen im Schraubraum des Wiener Traditionsgeschäftes „Donau-Fritzi“ decken sich mit den Inhalten der Jubelmeldungen von Politikern aus dem ganzen Land. Das Fahrrad wird immer beliebter. Was bei Pressekonferenzen meist verschwiegen und in Interviews nicht gesagt wird, ist: Es ginge noch besser. Andere Länder (und Städte) Europas zeigen das längst vor. An ihnen gemessen, sieht die Entwicklung hierzulande anders aus. Wer böse ist, könnte auch rückständig dazu sagen.

Magere fünf Prozent.
Die letzte verfügbare Verkehrserhebung weist der Republik einen Radverkehrsanteil von fünf Prozent aus. Europas Musterschüler sind die Niederlande. 27 Prozent aller Alltagswege werden dort mit dem Rad zurückgelegt. In Dänemark sind es 18, im Land der „German Autobahn“ immerhin noch zehn Prozent (Quelle: Eurobarometer).

Das eher beschämende Urteil setzt sich in der Summe der jährlich und pro Einwohner zurückgelegten Zweiradkilometer fort. Der Verkehrsclub Österreich hat für einen Vergleich repräsentative Daten aus ganz Europa zusammengetragen. Mit durchschnittlich 936 Kilometern pro Jahr sind die Dänen die fleißigsten Radfahrer des Kontinents. Auf den Plätzen: Niederländer (848), Belgier (322), Deutsche (291), Schweden (271) und Finnen (251). Die Österreicher fahren mit 162 km pro Kopf und Jahr weit hinter der europäischen Spitzenklasse. Warum eigentlich?

„Weil der Politik der Mut für Veränderungen fehlt“, sagen mehrere Mitglieder einer Gruppe prominenter Experten, die im vergangenen Jahr im Rahmen eines eigenen Unterausschusses für das Verkehrsministerium eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs erarbeitet hat. Ziel war eine nachhaltige Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO), die mehrere Problemfelder mit einem Schlag bearbeiten sollte: Förderung des Radverkehrs, Steigerung der Sicherheit im Straßenverkehr, Klimaschutz und ein Zuwachs an Lebensqualität für Anrainer von Hauptverkehrsrouten.

Geworden ist daraus nichts. Als es im April zur Abstimmung im Parlament kam, zogen SPÖ und ÖVP den Koalitionsfrieden der Expertise vor. Was blieb, ist die Helmpflicht für Kinder. Eine Maßnahme, die fast die gesamte Fachwelt als kontraproduktiv ablehnt. Nicht, weil jemand gegen das Tragen von Helmen wäre, sondern weil allein die Vorschrift massiv vom Umstieg aufs Rad abhält. Das belegen u.a. Beobachtungen aus Australien. So kam es, dass sich neben der Verkehrsministerin und der „Kronen Zeitung“ nur das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) für die Helmpflicht aussprach – und die passende Studie gleich dazu lieferte. Eine Studie, in der Wissenschaftler der TU Wien „schwere methodische Fehler“ sowie ein „systematisches Überzeichnen“ des Risikos von Kopfverletzungen fanden.

Der Ärger der Experten geht sogar so weit, dass sie der Regierung vorwerfen, den Maßnahmenkatalog auch aufgrund politischer Befindlichkeiten nicht beschlossen zu haben. Exemplarisch dafür steht die sogenannte „Fahrradstraße“, die Radfahrer gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern bevorzugt. Wiens grüne Vizebürgermeisterin hatte die Einführung von Fahrradstraßen bereits im Winter angekündigt. Kritiker werten die Nichtumsetzung in der StVO nun als bewusst gesetzte Bosheit der Regierungsparteien gegenüber dem politischen Mitbewerber. Sogar der Städtebund war empört.

Dabei ist regional durchaus auch von Engagement zu berichten. So bauten Österreichs Städte Kilometer von Radwegen, die den Radanteil am Gesamtverkehr in den Ballungsräumen vereinzelt auf ansehnliche Werte hievten. Zwar sind die letzten Erhebungen dazu schon einige Jahre alt, dennoch weisen sie für Salzburg 16, Graz 14 und Innsbruck 13 Prozent aus. Woran es örtlich – etwa in Wien – (fünf Prozent Radverkehrsanteil) scheitert?

„Die Radwegnetze haben Lücken und sind oft schlecht angelegt“, sagt Martina Sordian. Und auf den Radwegen der Hauptstadt kennt sie sich aus, ist sie doch an 365 Tagen im Jahr darauf unterwegs. Bei jedem Wetter. Die Mitarbeiterin von Global2000 besitzt seit Jahren kein Auto mehr und möchte mit ihrem Mobilitätsverhalten ein kleines Stück zur Verbesserung der Welt und ihrer eigenen Lebensqualität beitragen. Dass nicht mehr Leute Sordians Beispiel folgen, hat ihrer Meinung nach auch damit zu tun, „dass die, die Radwege planen, selbst nicht viel mit dem Fahrrad unterwegs sein dürften“.


Gefährliche Radwege. Sordians Beobachtungen decken sich mit den Erkenntnissen moderner Verkehrsplanung. Demnach hat Wien viel Geld in die falschen Radwege investiert. Als falsch gelten Anlagen, die – durch parkende Autos von der Fahrbahn getrennt – am Gehsteig verlaufen. Das provoziert Konflikte mit Fußgängern und steigert die Unfallhäufigkeit mit querenden Kfz an Kreuzungen. Einsteiger überlegen sich zweimal, ob sie sich mit ihren Kindern das wirklich antun wollen. Als vorbildlich gelten übrigens Radwege, die – baulich getrennt – direkt der Straße entlang führen.

Das ist eine Region des öffentlichen Raums, die als die ultimative Kampfzone gilt. Denn Radwege dieser Art kosten Parkplätze. Und eben diese werden in Österreich mit Zähnen und Klauen verteidigt. Insbesondere in Wien, trotz großzügig subventionierter Volksgaragen. Dabei zeigen Beispiele aus dem Ausland, dass das vermeintliche Kapitalverbrechen des „Parkplatzraubs“ weder den Handel hemmt noch die Mobilität einschränkt.

Im schweizerischen Bern oder dem deutschen Köln schuf man in den vergangenen Jahren entlang dicht befahrener Straßen bewusst mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer. Lediglich Zufahrtsmöglichkeiten für den Lieferverkehr blieben bestehen. Die Folgen entsprachen so gar nicht den hierzulande kolportierten Horrorszenarien. Je nach Branche stiegen die Umsätze der „betroffenen“ Kaufleute um bis zu 50 Prozent. „Die Projekte waren so erfolgreich, dass die Geschäftsleute anderer Straßen inzwischen anfragen, wann denn die Parkplätze vor ihrem Lokal verschwinden“, sagt Michael Meschik vom Institut für Verkehrswesen der Wiener Universität für Bodenkultur. Sozusagen nebenbei profitierte der Radverkehr, der in Köln innerhalb weniger Jahre auf 16, in Bern auf 15 Prozent des Gesamtaufkommens stieg.

Allen Widrigkeiten zum Trotz hat sich gerade in der Hauptstadt in den vergangenen Jahren so etwas wie eine Fahrradkultur herausgebildet. Nach der immer schon bestehenden Sportszene waren die ersten die Radboten. Ihnen folgten Jugendliche und Studenten, die sich immer öfter auf Räder aus Massenproduktion setzten, die jenen aus der Botenszene zum Verwechseln ähnlich sahen. Dass auch die Kleidung dazu passen musste, versteht sich von selbst. Verkauft wird all das inzwischen in schicken Geschäften (z.B. Trek Bicycle Vienna in der Hegelgasse oder Citybiker in der Lerchenfelderstraße), die sich in ihrer Aufmachung nicht hinter internationalen Modeketten verstecken müssen. An den Rändern der Bewegung entwickelten sich Institutionen für alle möglichen und unmöglichen Interessen aus der Welt des Fahrrads. Ein besonders praktisches Beispiel ist die kreative Selbsthilfe-Werkstatt Bike-Kitchen in der Goldschlaggasse.

Und dann gibt es jene, die das Rad als unaufgeregten Bestandteil des täglichen Lebens auch abseits von Kommerz und PR-Zinnober verinnerlicht haben. Kurt Krenhuber aus Baden ist so jemand. Der Steuerberater fährt Rad, „weil es praktisch und lustvoll ist“. Mit Umweltschutz und Trendsetting hat er nichts am Hut. Abseits der Freizeittouren mit Freunden und Familie ist er nämlich mit Auto, Motorrad, Bahn und Bus unterwegs. Fast immer mit dabei: sein Faltrad, das er im Lokal auch schon einmal unter dem Tisch parkt und das er – was sonst – als Firmenfahrzeug von der Steuer absetzt. „Es kommt dann zum Einsatz, wenn sonst kein Verkehrsmittel verfügbar ist.“

Land der Ausreden. Dass der Radverkehr in Österreich nicht genauso stark wächst wie im europäischen Ausland, hat nicht nur mit den Versäumnissen der Politik zu tun. Die nämlich, das sagen hinter vorgehaltener Hand selbst die überkritischen Lobbying-Organisationen, sei – wenn schon manchmal ungeschickt – immerhin bemüht. Als weitaus größte Bremse kann man getrost die Bevölkerung selbst bezeichnen. Im Vorjahr etwa ließ das Verkehrsministerium in der Bevölkerung jene Gründe abfragen, warum nicht mehr Leute das Fahrrad für ihre Alltagswege benutzen.

Mit Abstand am häufigsten genannt wurde das Wetter. Was eine Ausrede, aber kein Grund dafür sein kann, dass in Wien fünf, in Kopenhagen 35, in Amsterdam 28 Prozent der Alltagswege mit dem Rad zurückgelegt werden. In beiden Städten regnet es öfter, ist die Durchschnittstemperatur niedriger als hierzulande.

Weitere Hindernisse sind „zu weite Distanzen“ und die Auffassung, dass Radfahren „zu anstrengend“ sei. Objektiv ist das schwer zu begründen. Statistisch sind 50 Prozent aller Wege kürzer als fünf Kilometer, und: Im schweizerischen Winterthur (Radanteil: 25 Prozent) ist die Topografie nicht weniger anspruchsvoll als in Österreichs Landeshauptstädten. Von Wien ganz zu schweigen.

Angst vor Pkw. Das emotional bedeutendste Thema ist jedoch die Sicherheit. Sylvia Gehnböck, hauptberuflich Osteopathin, ist begeisterte Leistungssportlerin. Jahr für Jahr spult die sichere und erfahrene Radfahrerin allein im Training tausende Kilometer ab. Und zwar jenseits der Wiener Stadtgrenze. Der Verkehr in der Stadt ist ihr ein Graus. „Viel zu gefährlich“, sagt die 31-Jährige, die schon zu viele verunglückte Patienten in ihrer Praxis betreut hat. Von Tür zu Tür fährt sie deshalb lieber mit dem Auto oder der U-Bahn.

Anders als viele andere Hemmnisse ist die Angst vor dem Straßenverkehr nicht unbegründet. Zwar ging die Zahl der Getöteten auf zuletzt 32 im Jahr 2010 zurück, trotzdem sind Radfahrer im Vergleich zu anderen Verkehrsteilnehmern überproportional gefährdet. Sie stellen fünf Prozent des Aufkommens, aber elf Prozent der Verletzen. Die Zunahme des Radverkehrs wird jedoch auch durch die Angst nicht gebremst werden können. Eine Erhebung des deutschen Instituts Socialdata attestiert dem Wiener Radverkehr immerhin ein zusätzliches Potenzial von sechs Prozentpunkten. Theoretisch.

Kunden, auf die sich Raddoktor Martin Krainer in seiner Werkstatt an der Donau schon freut. Nur: „Es wäre schön, wenn sich irgendwann die Erkenntnis durchsetzt, dass man ein Jahrresservice nicht nur im Frühling und zeitgleich mit allen anderen machen kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2011)

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