Liegeräder: Anstrampeln gegen das System

Liegeraeder Anstrampeln gegen System
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Das "Aufrechtfahrrad": für ihn eine Fehlkonstruktion, hinter der eine verschworene Industrie steckt. Thomas Seide predigt Liegeräder, zum Beispiel aus seiner Gänserndorfer Manufaktur.

Bei allen Talenten, die in dem Mann schlummern mögen: Eine Karriere als Top-Diplomat wäre sich für Thomas Seide wahrscheinlich nicht ausgegangen. Er sagt Sätze wie „Wer acht oder zehn Kilometer mit dem Auto zur Arbeit fährt, gehört sowieso erschlagen“ oder „Kunden sind Trotteln“.

Er meint es natürlich nicht so. Seide, 40, ist Missionar. Des Weiteren Konstrukteur und Hersteller von Liegerädern sowie Inhaber eines erstaunlichen Mundwerks. Bei ihm mischen sich die Fertigkeit, in derben Wortduellen zu bestehen, wie das für eine Kindheit in Ottakring überlebensnotwendig ist, und das Hochdeutsch des Auslandsösterreichers, der im bayrischen Erlangen aufwuchs und dort das Gymnasium absolvierte. „Zum Glück. Wien war ein Drecksloch damals, grau und stinkert.“ Auch wenn er schimpfen kann wie ein echter Wiener, halten sie ihn hier für einen Piefke.


Revolution in Redneck County. Hier, das ist Gänserndorf, Häuslbauer-Paradies und Redneck County der weiteren Wiener Peripherie. Ein unwahrscheinlicher Ort, um eine Fahrrad-Revolution anzuzetteln: Hier ist bestenfalls der Sonntagsausflug auf zwei Rädern nicht geächtet. Seide: „Das politische Engagement fürs Radfahren ist nur Alibi. In Niederösterreich bauen sie keine Radwege, sondern Autobahnen.“

Das Gänserndorfer Haus seiner Eltern hatte sich dennoch angeboten, als er 2003 nach Österreich zurückkehrte und zunächst einen Job suchte, um sich die Besessenheit vom Liegerad finanzieren zu können. Ein serbischer Hersteller von „Trikes“ hatte dann „das Glück gehabt, mich kennenzulernen, sonst gäbe es ihn heute nicht mehr“. Seide, der schneller reden kann als ein Maschinengewehr schießen und kaum Widerrede gelten lässt, kurbelte die Verkäufe der niedergehenden Firma auf Messen an, übernahm bald die Konstruktion der Räder und schließlich die Regie des Unternehmens. Seinem serbischen Partner versprach er einen „Westwagen“, würde dieser nur auf sein Kommando hören. „Und den hat er heute.“

In Serbien wird auf modernen Anlagen produziert, im Gänserndorfer Gartenschuppen montiert, im letzten Jahr 200 Stück. 14 Angestellte hat Seides Firma „Bike Revolution“, 60 Stunden Handarbeit stecke in jedem Rad, auch wenn die Kosten einer Produktion in Fernost auf ein Viertel kämen. „90 Prozent aller Räder auf dem Weltmarkt kommen aus Taiwan, schlimmstenfalls aus China, immer mehr aus Indien. Aber frag die einmal, was sie dort verdienen. Eine Ausbeutung.“

Mit normalen Fahrrädern hat Seide ohnehin längst abgeschlossen. „Das Aufrechtfahrrad ist eine Fehlkonstruktion, statisch und ergonomisch“, sagt er, „eine Eierfalle, bestenfalls zum Arschbluten gut.“ Unschlagbar dagegen sei das Liegerad mit seiner Ergonomie und seiner besseren Energiebilanz. Doch Industrie und Großverbände würden den Fortschritt bremsen, so Seide. Liege- und Aufrechtrad seien gemeinsam entstanden und hätten sich über Jahrzehnte parallel entwickelt. Auch in den Fabriken von Peugeot und Renault wurden sie im großen Maßstab gefertigt. Bis 1934 der Radsportverband UCI, „die Mafia der Fabrikanten“, entschied, sie von Wettbewerben auszuschließen. Die Industrie hatte im Diamantrahmen ihre Norm gefunden und bleibt bis heute dabei.


Spleen der Eigenbrötler. So verschwanden Liegeräder beinah zur Gänze. Dannund wann tauchen sie auf im Verkehr, man hält sie für einen Spleen von Eigenbrötlern. Keine einzige große Marke hat sie im Programm.

Herr Seide gedenkt das zu ändern. Dabei verachtet er Hobby- und Sportfahrer, kein kleiner Markt. Für ihn ist das Rad eine Gerätschaft des Alltags.

Wenn Rennradfahrer vorbeikommen, nimmt die Hälfte „Reißaus, weil sie das Reden nicht ertragen.“ Er sei der „kleine Durchgeknallte in der Branche“, stellt Seide fröhlich fest. „Nur Rad kaufen bei mir geht nicht.“

Seine Kunden seien Männer ab 40, die Geld haben „und draufkommen, dass sie verfetten, weil sie jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fahren.“ Die Dicken, die Unsportlichen und Kreuzpatienten, alle, die das Leben nicht mehr durch Fensterscheiben an sich vorbeigleiten sehen wollen – sie setzt Seide in ein Liegerad. Es verwerte die Pedalkraft effizienter, biete dem Gegenwind weniger Stirnfläche, belaste den Rücken nicht und sei sicherer, weil die Fallhöhe geringer ist und man nicht mit dem Kopf voran stürzen kann. Leichtes Einsteigen und „Sitzen wie im Gartenstuhl“ verspricht Seide (siehe Selbstversuch, unten).

Ob man nun im Trike oder im Sesselrad der Herzverfettung entkommt, müsse die Beratung klären. Im Schuppen steht ein voll verkleidetes Velomobil, fertig zur Auslieferung. Es geht an einen Kunden in Deutschland und kostet 9000 Euro. Der Mann hat offenbar Glück gehabt: „Ein Durchschnittsdegenerierter, den ich jetzt rette.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2011)

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