Psychologin: „Weibliche Täterschaft wird tabuisiert“

Übergriffe im Kloster. Die Innsbrucker Psychologin Ulrike Paul spricht über die Fälle sexuellen Missbrauchs durch Nonnen in Tirol: „Solche Orden sind ein Biotop für Deformationen charakterlicher und sexueller Art.“

Wien. „In sämtlichen Heimen dieser Zeit herrschten menschenunwürdige Zustände, aber in den meisten kirchlichen Einrichtungen war es besonders schlimm“, sagt Ulrike Paul zur „Presse“. Die Innsbrucker Psychotherapeutin hat mehr als 40Missbrauchsopfer betreut – darunter auch jene 49-jährige Tirolerin, die sich über sexuellen Missbrauch in einem mittlerweile aufgelassenen Kloster der Benediktinerschwestern Martinsbühel bei Zirl äußerte.

Hinzu komme, dass weibliche Täterschaft nach wie vor stark tabuisiert werde. „Dadurch ist es für Opfer noch schwieriger, sich Gehör zu verschaffen. Wenn sich Kinder, die von Nonnen missbraucht wurden, damals ihren Eltern anvertraut haben, wurde ihnen oft gesagt, es handelt sich um Mutterliebe und nicht um Missbrauch“, so die Psychologin. Eine Sichtweise, die Frauen aggressive Sexualität nicht zutraut, führe dazu, dass den Betroffenen oft nicht geglaubt werde.

Wenn, dann werde eher an Übergriffshandlungen bei der Pflege – etwa beim Duschen oder Baden – gedacht, nicht jedoch daran, dass auch Frauen sexuellen Missbrauch ausüben können. Es werde jedoch auch „zusehends mehr bekannt, dass sexuelle Übergriffe auch von Frauen begangen werden. Die Sexualdelinquenz hat also auch ein weibliches Gesicht“, sagt Paul. Da die Gesellschaft darauf zu wenig sensibilisiert ist, werden Hinweise oder Andeutungen von Opfern oft nicht verstanden – auch von Fachleuten.

Zu den besonderen Umständen eines Klosters meint Paul: „Solche Orden sind ein Biotop für Deformationen charakterlicher und sexueller Art.“ Viele Ordensschwestern waren oft selbst nicht freiwillig dort und waren keine ausgebildeten Erzieherinnen. „Die haben eine harte und grausame Schule absolviert. Rangniedrigere Schwestern waren selbst oft massiven Schikanen ausgesetzt und haben ihren Frust an den noch Schwächeren, den Kindern, ausgelassen“, sagt die Psychologin.

Täterinnen wohl auch Opfer

Im aktuellen Fall kam es zu einer ritualisierten Form des Missbrauchs – die Betroffene wurde mehrfach von Nonnen und weltlichen Aufseherinnen auf dieselbe Weise brutal mit einer Klobürste penetriert. Da es über diese Form sexueller Gewalt ein kollektives Wissen gab, geht Paul davon aus, dass sie auch an den Täterinnen ausgeübt wurde.

Aus den Gesprächen mit den Opfern zieht Paul den Schluss, dass die Nonnen teilweise extrem grausam waren. Manche hätten sich an der Gewalt direkt ergötzt, indem sie dabei Lustschreie von sich gegeben hätten. „Das ist geballter Frust auf das nicht gelebte Leben“, so die Psychologin.

Paul betont, dass neben der Anerkennung dessen, was den Menschen genommen wurde, eine lückenlose Aufarbeitung der Heimerziehung wichtig wäre. Und man müsse ansehen, wie die Jugendfürsorge heute arbeitet, damit sich so etwas nicht wiederholen kann. Sie fordert weiters höhere finanzielle Entschädigungen: Die derzeitigen Zahlungen sind der Psychologin zu niedrig. „Die Frage ist, was bietet die Gesellschaft im Sinne der Anteilnahme, Entschädigung und Wertschätzung“ – derzeit sei das noch zu wenig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2011)

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