Obdachlos – die Würde stirbt zuletzt

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Nicht nur zur Weihnachtszeit: Mitarbeiter der „Gruft“ schwärmen drei Mal die Woche ins nächtliche Wien aus, um Obdachlosen Hilfe anzubieten – oder auch nur ein Gespräch.

Wien. Die Informationslage über den ersten Einsatz des Abends ist relativ dürftig: Seit einiger Zeit soll vor dem Anton-Proksch-Institut in Liesing ein Mann in seinem Auto leben. Weil er wegen Rückfällen von der Behandlung ausgeschlossen wurde, haust der Alkoholiker jetzt in seinem Pkw vor der Entzugsklinik.

Mehr weiß auch Susanne Peter nicht. Die Sozialarbeiterin mit 25Jahren Berufserfahrung arbeitet schon seit ihrem 16. Lebensjahr für die Gruft, ein Obdachlosen-Betreuungszentrum der Caritas. Vielleicht wirkt ihr Auftreten auch deshalb so professionell: gleich, in welcher Lage sich die Obdachlosen befinden, auf die die Streetworkerin in dieser Nacht trifft – sie bleibt immer ruhig, aufmerksam, im Ton aber trotzdem bestimmt.

Die Streetworker der Gruft rücken für ihre nächtlichen Einsätze immer mit einem Kleinbus aus. Falls Obdachlose sich dazu überreden lassen, in die Gruft mitzukommen, werden sie mit dem Bus sofort dorthin gefahren. Weshalb aber kommt jemand, der auf der Straße schlafen muss, nicht von selbst in eine Betreuungseinrichtung?

Das Klischee des „Sandlers“

Wer Menschen am Rande der Gesellschaft nur vom Vorbeigehen kennt, glaubt im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit gerne an das Klischee des nach Alkohol riechenden Bettlers, der alles tun würde, um nicht draußen schlafen zu müssen. Die Realität jedoch sieht oft anders aus.

„Sein Schamgefühl ist das Letzte, was der Mensch verliert. Ich habe Klienten, die schon seit Jahren auf der Straße sind. Wenn ich aber frage, ob ich etwas für sie tun könnte, sagen sie nur: „Nein, nein, ich brauche nichts.“ Aus Scham – für ihr Aussehen, ihre Kleidung, ihren Geruch – bauen sie sich ihre eigene Wirklichkeit. In dieser müssen sie keine Hilfe annehmen, so können sie sich noch einen Rest an Würde bewahren“, erklärt Susanne Peter.

Als der Gruft-Bus in Liesing ankommt, werfen die Sozialarbeiter einen Blick ins Wageninnere, der Mann ist nicht da. Da er schon seit Wochen in seinem Auto lebt, türmen sich im gesamten Fahrgastraum Bierdosen und Zigarettenpackerln.

Weiter geht es zur U-Bahn-Station Philadelphiabrücke. Dort hat Susanne Peter in einer ruhigeren Ecke einen alten Klienten entdeckt. Sie setzt sich neben ihn und beginnt ein Gespräch. Peter Neulinger wurde vor einigen Monaten aus dreijähriger Haft entlassen, „dort hab' ich auch mit dem Alkohol aufgehört“. Jetzt verkauft er Schallplatten auf Flohmärkten und schläft unter der Reichsbrücke: „Hinter einem Verschlag, ganz versteckt“, wie er sagt. Peter schafft es zwar nicht, den 52-Jährigen in die Gruft zu „locken“ („da ist es ihm zu eng, da wird er aggressiv“), wenigstens seine Handynummer aber hat sie bekommen. „Das ist wichtig, um in Kontakt bleiben zu können.“

Kontaktaufbau sei in ihrem Beruf das Wichtigste, sagt Peter. Manchmal dauere es mehrere Jahre und viele Gespräche, bis Obdachlose genug Vertrauen zu ihr oder einem ihrer Kollegen gefasst haben. „Auf der Donauinsel hab' ich einmal über Monate mit einem Klienten durch die Klotüre gesprochen – er drinnen, ich draußen. Am Ende hat er dann aber schon gesagt: „Wo waren S' denn?“

Kurz vor 21Uhr kommt der Gruft-Bus am Praterstern an. Die Stimmung ist anders als bei der Philadelphiabrücke, irgendwie bedrohlicher. „Hier trifft man die aggressiven Alkoholiker, mit denen kann ich am besten. Deshalb komm' ich – im Gegensatz zu den meisten anderen Streetworkern – sehr gerne hierher.“ Nach einem Treffen mit „Schurli und Luca“ wird klar, wovon Susanne Peter spricht. Georg alias „Schurli“ ist aus einer Weinbauernfamilie. „Da trinkst du schon als Kind“, meint Peter. Heute ist Georg schwer alkoholabhängig.

„Weißt, warum ich sauf'?“, fragt er und gibt sich die Antwort gleich selbst. „Stell' Du dich mal raus in die Kälte, mit all diesen Idioten hier, einer b'soffener als der andere...!“ Sein junger Begleiter – geschätzte 28 Jahre alt – wird „Luca“ oder „Praterstern-Luca“ genannt. Wankend steht er neben Schurli und wird von vorbeigehenden Passanten in großen Bögen umgangen. Nur Susanne Peter bleibt in seiner Gegenwart relativ ruhig.

Die Streetworkerin will mit Georg einen Beratungstermin vereinbaren. „Ich werd' kommen, Susanne. Ich versprech's dir“, sagt Georg. Obdachlose wie er bereiten den Streetworkern oft Sisyphusarbeit. Termine werden nicht eingehalten, Angebote, in ein Wohnheim zu ziehen, verfallen, und so manch einer taucht einfach unter. Doch auch wenn Georg nicht wie vereinbart vorbeikommt: „Ich lass' dich nimma in Ruh'“, verspricht ihm Peter beim Abschied.

Leben unter Villen – am WC davor

Der letzte Szenenwechsel des Abends führt die Streetworker nach – Döbling. Dort, inmitten von Villen und Botschaften, „wohnt“ Herr Pölzl in einer öffentlichen Toilette. Als er die Streetworker (allesamt Frauen) sieht, freut er sich richtig: „Oh, junger Mädchenbesuch! Wie geht es Ihnen, alles in Ordnung?“ Der 62-Jährige mit dem Steirerhut ist aufgrund eines Schlaganfalls, der seine linke Gesichtshälfte lähmte, schwer zu verstehen. Herr Pölzl wohnte schon einmal in einem Heim, hat es dort aber nicht lange ausgehalten. „Ich schlaf' lieber hier, da hab' ich meine Ruhe“, sagt er. Auch in die Gruft mitkommen will er an diesem Abend nicht. „Auf Wiedersehen, kommen Sie bald wieder!“, ruft er zum Abschied.

Wenige Tage später, in der Gruft: Ein Steirerhut ist in der Menge zu sehen. Susanne Peter erkennt den Träger: „Herr Pölzl, Sie sind gekommen!“ Peters Kollegen fanden ihm eine kleine betreute Wohnung, Herr Pölzl kann sofort einziehen. In seine eigenen vier Wände. Susanne Peters strahlt – denn das ist der wahre Lohn ihrer Arbeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2011)

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