Bunker, Gitter, Keller: Wien und seine Kriegsrelikte

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Der Historiker Marcello La Speranza und der Fotograf Robert Bouchal sind auf der Suche nach Relikten des Zweiten Weltkrieges fündig geworden - über und vor allem unter der Erde.

Es ist nur die Küche eines Bierlokals im Alten AKH. Zumindest auf den ersten Blick. Erst beim genaueren Hinsehen fallen die Fenster auf – tief drin in der Mauer stecken sie, und die Tiefe der Fensterbretter lässt erahnen, wie dick die Betonwand des Gebäudes ist: Massiv wie ein Bunker. Tatsächlich wurde die heutige Küche der Stiegl Ambulanz einst als „Operationsbunker“ errichtet, in dem die Ärzte des Allgemeinen Krankenhauses dringende Operationen auch während eines Luftangriffs durchführen konnten. Ein Relikt des Zweiten Weltkrieges, das heute kaum mehr als ein solches wahrgenommen wird. Und nur eines von vielen.

Am Dienstag jährt sich die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 67. Mal. Und fast sieben Jahrzehnte später finden sich noch immer Spuren des Krieges in der Stadt – einmal mehr, einmal weniger auffällig. Als wohl markanteste Monumente haben sich die sechs Flaktürme ins Wiener Stadtbild eingefügt. Doch daneben gibt es zahllose weitere Bauten, die nicht unbedingt auf den ersten Blick als Kriegsrelikte identifiziert werden können. Und auch Orte, von der die Öffentlichkeit gar nichts weiß – oft nicht einmal die Menschen, die unmittelbar daneben oder darüber wohnen.

Es sind vor allem diese Orte, an denen sich der Historiker Marcello La Speranza und der Fotograf Robert Bouchal in den vergangenen eineinhalb Jahren aufgehalten haben. Auf der Suche nach Relikten und Entdeckungen, den letzten Spuren des Krieges, deren Ergebnisse sie nun in Buchform zusammengestellt haben. „Ein Mann hat uns kontaktiert und in einen Keller unter seinem Haus geführt“, erzählt Bouchal. „Und unter diesem Keller war noch ein weiterer Keller versteckt – auf einmal waren wir in einem Luftschutzkeller aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein echter Zeitsprung.“


Stahlhelme und Bajonette. Gerade private Keller bergen die meisten Relikte, schon allein, weil sie oft jahrzehntelang im Verborgenen lagen. Wobei es nicht um materiell wertvolle Dinge geht – es sind Kleidungsstücke, Flaschen, Dinge des täglichen Gebrauchs, die in den Kellern zurückgelassen wurden. Ab und zu auch militärische Relikte, Stahlhelme, Gewehre, Bajonette, auf die die Forscher stoßen. „Für die Stadtarchäologie sind bisher nur Funde aus der Römerzeit oder alte Stadtmauern interessant“, sagt La Speranza. Der Zweite Weltkrieg sei wohl noch zu nahe. „Aber wir stellen jetzt die Weichen, wohin die Stadtarchäologie geht.“

Wobei das Graben in Kellern nur ein Teilaspekt der Spurensuche ist. Es sind oft auch nur einfache Markierungen an Hauswänden, die heute kaum mehr jemand zu deuten weiß – die Aufschrift „LSK“ am Haus am Spittelberg 26 etwa weist den Weg zum Luftschutzkeller. Auch viele Luftschutzsirenen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges stehen noch auf Hausdächern. Und der Blick auf den Boden bringt Dinge hervor, die man zuerst einmal gar nicht unbedingt als Kriegsrelikte erkennen würde – Metallgitter mit der Aufschrift „Mannesmann“ werden fälschlicherweise oft für Kanalgullys gehalten, in Wirklichkeit verbergen sich darunter Notausstiege aus Luftschutzkellern.

Noch genauer schauen muss man, um Kampfspuren zu entdecken, doch auch sie gibt es – von der Granate in der Eingangstür der Votivkirche bis zu Einschusslöchern in einer Christusfigur auf dem Simmeringer Friedhof. Gar nicht zu reden von den vielen nicht detonierten Bomben, die unentdeckt unter der Wiener Erde liegen. Das Bewusstsein für all diese Relikte – ob sichtbar oder gut versteckt – zu wecken, ist die Intention der beiden Forscher. Um ein Kapitel der Geschichte aufzuarbeiten, so lange es noch Zeitzeugen gibt. „Mit jedem, der stirbt“, sagt La Speranza, „geht eine Bibliothek der individuellen Erlebnisse verloren.“


Jahrzehntelang unbeachtet. Einige wenige würden sich versperren, sagt La Speranza, „aber es gibt viele, die uns auf unserer Suche erzählen, wie sie die Situationen im Krieg erlebt haben.“ Und so werden Dinge, die jahrzehntelang unbeachtet in Kellern und unter Schutt gelegen sind, mit einer Geschichte aufgeladen, wieder mit Leben erfüllt. Und natürlich bescheren die Forscher so manchem Anrainer auch noch Aha-Erlebnisse.

Schließlich ist heute nicht jedem bewusst, dass sich unter der mit Graffiti beschmierten Skateranlage im Arne-Carlsson-Park am Alsergrund ein alter Luftschutzbunker verbirgt – lange Zeit nutzte ihn das Stadtgartenamt als Lagerraum, heute bietet das Bezirksmuseum regelmäßige Führungen durch den „Erinnerungsbunker“ an. Der graue Klotz unter dem Kinderspielplatz im Josefstädter Schönbornpark, der früher bei Luftangriffen bis zu 600 Menschen Schutz bot, wird dagegen als Lager des Volkskundemuseums genutzt. Öffentlich zugänglich ist dagegen der Bunker im Esterhazypark – heute findet sich darin das Foltermuseum. Nicht alle dieser Bunker haben bis heute überlebt, so wurde etwa 1982 ein Weltkriegsbunker am Phorusplatz in Wien gesprengt – heute befindet sich dort ein Kinderspielplatz.


Rätselhafte Gebäude. Doch selbst bei Gebäuden, von denen man weiß, dass sie aus der Kriegszeit stammen müssen, bleiben noch Rätsel offen. Der achteckige Stahlbetonbau in der Floridsdorfer Gerichtsgasse könnte etwa als Flakstellung geplant worden sein – allein, er wurde nie vollendet. Und steht nun zwischen den rund um ihn errichteten Häusern da wie ein Relikt aus einer anderen Welt. Die Anrainer scheinen sich mit dem seltsamen Nachbarn arrangiert zu haben – wenigstens strahlt er eine gewisse Ruhe aus. La Speranza und Bouchal wollen aber noch lange keine Ruhe geben – unter der Erde warten noch zahllose Relikte, die es zu bergen gilt. „Im aktuellen Buch“, sagt Bouchal, „sind gerade einmal 15 bis 20 Prozent des Materials, das wir gefunden haben.“

Spuren- Suche

Wien. Die letzten Spuren des Krieges.
Relikte & Entdeckungen.
Von Robert Bouchal und Marcello la Speranza.
Pichler Verlag, 24,99 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2012)

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