Tim Bullamore: Geschichten über das Leben

Bullamore Geschichten ueber Leben
Bullamore Geschichten ueber Leben(c) Erwin Wodicka
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In angloamerikanischen Zeitungen hat der Nachruf, anders als bei uns, eine große Tradition. Gespräch mit einem der obituary journalists der "Times".

Herr Bullamore, ist es ein beklemmendes Gefühl, vom Tod anderer Menschen abzuhängen, um einen Artikel zu schreiben?

Tim Bullamore: Das ist wie bei Bestattungsinstituten – du gewöhnst dich daran, weil es natürlich ist, dass Leute sterben. Außerdem ist der Tod bei einem guten „obituary“ (Anm.: Nachruf) nur der Auslöser der Story, die dann vom Leben handelt. Es gibt natürlich Fälle, in denen es mich traurig macht, einen Text zu schreiben, vor allem dann, wenn der gestorbene Mensch jünger ist als ich selbst. Vor kurzem starb die die rumänische Pianistin Mihaela Ursuleasa mit 33 und hinterließ eine siebenjährige Tochter. Da gehört dann auch die Frage in den Text, warum die Person so früh starb.

Im englischsprachigen Raum gibt es Journalisten wie Sie, die ausschließlich Nachrufe schreiben. Einige große Zeitungen haben eigene „Obituary“-Ressorts, die täglich gefüllt werden. In Österreich gibt es das nicht. Was macht das Genre so beliebt?

Die „New York Times“ schrieb einmal, Nachrufe seien „eine Oase der Ruhe in einer verrückt gewordenen Welt.“ Täglich liest man über Krieg und Korruption – paradoxerweise können Nachrufe da eine aufmunternde Abwechslung sein, weil sie von einem Leben erzählen, das gerade ein Ende gefunden hat. Manchmal lernen Leser dabei sogar viel, weil die beschriebenen Personen häufig keine Berühmtheiten sind. Meist gehören die Nachrufe zu den beliebtesten Seiten einer Zeitung.

Zwei britische Zeitungen, die „Times“ und der „Daily Telegraph“, veröffentlichen die Autorennamen unter den Nachrufen nicht. Geht es dabei um Anstand?

Dabei geht es vor allem um Tradition. Aber ich glaube schon, dass Anonymität die Texte kritischer macht. Es schwebt doch immer dieser Imperativ über uns, dass wir nicht schlecht über die Toten reden sollen. Wenn du aber nicht unter deinem eigenen Namen schreibst, kannst du eine bestimmte Distanz wahren. Und du kannst trotzdem noch zur Beerdigung erscheinen, ohne böse Blicke zu ernten. Ich glaube, im Fall von Nachrufen wird der Journalismus so nur besser.

Apropos besserer Journalismus: der Tod bestimmter Personen wird in der Regel gar nicht thematisiert. In britischen Zeitungen sind 40 Prozent jener Menschen, denen Nachrufe gewidmet werden, weiß, männlich und haben an den Universitäten Oxford oder Cambridge studiert.

Das ist ein großes Problem. Ein Grund dafür ist sicher, dass die meisten Nachrufressortleiter selber weiß, männlich und Oxbridge-Abgänger sind. Ein anderes Argument ist, dass die erste Generation, der viele berühmte und beliebte Frauen angehören, erst noch sterben muss. Das ist aber nur bedingt wahr. Auch in den 1960er Jahren haben Frauen schon interessante Dinge getan, nur saßen sie nicht so häufig in Aufsichtsräten oder Parlamenten. Ich bin immer auf der Suche nach interessanten Frauen. Wenn ich eine finde, schreibe ich den Nachruf manchmal auch schon, bevor sie überhaupt gestorben ist.

Angenommen David Cameron, der britische Premierminister, würde heute sterben und Sie müssen den Nachruf verfassen. Wie würden Sie das angehen?

Ich bin sicher, dass der längst geschrieben ist. Über Leute vom Rang des Premierministers werden Nachrufe schon recht früh verfasst und regelmäßig überarbeitet. Auch über alle Mitglieder der königlichen Familie, die jüngeren wie William und Harry eingeschlossen, liegen Texte in den Redaktionen. Als ich vergangene Woche Redaktionsdienst in der „Times“ hatte, bat mich ein Kollege sicherzustellen, dass ein Text über Margaret Thatcher bereitlag. Es kursierten Gerüchte, sie könnte gestorben sein, die sich später aber als unwahr herausstellten.

Peinlich wird es, wenn ein Nachruf gedruckt wird, obwohl die entsprechende Person noch gar nicht tot ist. Alfred Nobel, Erfinder des Dynamits, ist ein prominenter Fall.

Ein Horrorszenario. Als Nobels Bruder gestorben war, brachte eine französische Zeitung eine Story mit dem Titel: „Alfred Nobel – Kaufmann des Todes.“ Alfred Nobel hatte sich persönlich über den Text beschwert. Ein anderer Fall ist die britische Schauspielerin Dorothy Faye Ritter. Im Sommer 2001 lag sie im Krankenhaus und ein Freund, der für den „Daily Telegraph“ arbeitete, wollte sie besuchen. Als er Faye Ritter nicht auf ihrem Zimmer fand, fragte er eine Krankenschwester, wo sie sei. „She's gone“, lautete die Antwort. Der Journalist verstand, dass Faye Ritter gestorben sei, obwohl sie nur in ein anderes Zimmer verlegt worden war. Am folgenden Tag veröffentlichte der „Telegraph“ einen entsprechenden Nachruf. Aber bei Alfred Nobel hatte das Missgeschick etwas Gutes: Weil er nicht als „Kaufmann des Todes“ erinnert werden wollte, stiftete er den Nobelpreis.

Sollte der Nachruf zu Cameron noch nicht verfasst sein, wie würden Sie es angehen?

Als Autor musst du deine Leser darüber informieren, welche Entscheidungen die Person gemacht hat, mit welchen Vor- und Nachteilen sie geboren wurde. Cameron ist auch ein männlicher, weißer Oxford-Abgänger... Aber die Leser wollen auch die kuriosen Seiten eines Lebens wissen. Vor kurzem habe ich einen Nachruf über Michel Schwalbé geschrieben, der die erste Geige der Berliner Philharmoniker spielte. Schwalbé mag den meisten Lesern nicht bekannt sein, aber seine Geschichte ist spannend. Als polnischer Jude war er im Zweiten Weltkrieg von Frankreich in die Schweiz geflohen. Später spielte er mit Herbert von Karajan, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, zusammen im Orchester. Die Musik vereint die Menschen. Eine tolle Geschichte.

Zur Person

Tim Bullamore,

46, kommt aus dem englischen Bath, arbeitet als freier Nachrufjournalist für die „Times“ und den „Daily Telegraph“ und schreibt ausschließlich über Menschen aus der klassischen Musik. Vorher arbeitete er als Kunstagent und entdeckte seine Leidenschaft für Nachrufe 1993, als die russische Pianisten Tatiana Nikolayeva, eine Schülerin von Dmitri Schostakowitsch, gestorben war. Pro Jahr schreibt Bullamore rund 65 Nachrufe. Insgesamt hat er bisher etwa 2000 solche Artikel verfasst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2012)

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