Hintergrund: Das islamische Rechtssystem Scharia

Bei der Scharia - das Wort bedeutet "der Weg" - handelt es sich um ein umfassendes Rechtssystem des Islam, das sämtliche Handlungen und Beziehungen der Menschen beurteilt und regelt.

Das islamische Rechtssystem Scharia ist seit einigen Jahren auch in der westlichen Welt in aller Munde. Forderungen nach einer Einführung der Scharia bzw. der Verstärkung ihres Einflusses auf die Justiz in mehrheitlich muslimischen Ländern haben gerade seit dem "Arabischen Frühling" 2011 an Kraft gewonnen.

Oft wird die Scharia in der westlichen Öffentlichkeit mit schweren Körperstrafen wie Steinigung oder Handabhacken identifiziert. Dabei bilden diese, direkt auf den Koran zurückgehende Strafen (hudud) für spezifische Vergehen wie Ehebruch, Diebstahl oder Glaubensabfall nur eine - freilich besonders umstrittene - Konsequenz des islamischen Rechts.

Bei der Scharia - das Wort bedeutet "der Weg" - handelt es sich nämlich um ein umfassendes Rechtssystem des Islam, das sämtliche Handlungen und Beziehungen der Menschen beurteilt und regelt.

Kein Unterschied zwischen weltlicher und religiöser Sphäre

Da die islamische Glaubenstradition im Gegensatz zum Christentum keinen Unterschied zwischen natürlicher Erkenntnis und übernatürlicher Offenbarung und damit auch keine Unterscheidung zwischen weltlicher und religiöser Sphäre kennt, gilt ein Leben nach dem Islam und der Scharia für jeden Menschen als die Erfüllung seiner menschlichen Natur als Geschöpf Allahs. Sämtliche Pflichten und Taten haben daher einen direkten Bezug zu dem von Allah niedergelegten Gesetz wie auch zur islamischen Gesellschaft. Die Scharia ist damit religiöses Regelwerk, moralischer Kodex und rechtliches Beurteilungssystem in einem, ohne Trennung verschiedener Lebenssphären.

Hauptquellen der Scharia sind der Koran - das nach islamischem Glauben wörtlich von Allah geoffenbarte heilige Buch - und die Sunna, die Worte und Taten des Propheten Mohammed. Diese Vorgaben geben die Prinzipien vor, nach denen alle menschlichen Handlungen in fünf Kategorien - von vorgeschrieben (fard) bis verboten (haram) - eingeteilt werden.

Die islamische Rechtswissenschaft (fiqh), die von den Rechtsgelehrten (ulema) ausgeübt wird, interpretiert diese Quellen mit Hilfe der Prinzipien des Konsenses (ijma) und der Analogie (qiyas) und adaptiert sie für konkrete Fälle. Daher ist die Scharia von ihrem System her weniger mit dem aus dem römischen Recht kommenden, schriftlich niedergelegten kontinentaleuropäischen Recht, sondern eher mit dem auf Einzelentscheidungen basierenden angelsächsischen common law vergleichbar.

Im sunnitischen Islam haben sich im Laufe der Zeit vier Rechtsschulen herausgebildet - Hanafi, Hanbali, Maliki und Shafi'i - die regional unterschiedlichen Einfluss haben und die Interpretationsprinzipien der fiqh unterschiedlich gewichten. Im schiitischen Islam gilt die Ja'afari-Rechtsschule als die dominante.

Heute gelten meist gemischte Systeme

Im Zuge der Kolonialisierung großer Teile der islamischen Welt durch europäische Mächte wurde im 19. und 20. Jahrhundert das Scharia-System großteils durch westliche Rechtsordnungen ersetzt bzw. in bestimmte Lebensbereiche verdrängt. Heute gelten in den meisten muslimisch dominierten Staaten der Welt gemischte Systeme, die die Scharia als prinzipielle Grundlage des Rechts mit aus dem Westen übernommenen Verfassungs- und Gesetzesordnungen verbinden. In einigen Ländern wie Saudi-Arabien oder dem Iran bildet die Scharia allerdings die einzige Quelle der Rechtsprechung.

Andere Staaten - darunter mehrere mehrheitlich nicht-muslimische wie Indien, Israel oder die Philippinen - lassen wiederum die Tätigkeit von Scharia-Gerichten für die internen Belange der muslimischen Gemeinde zu. Eine ähnliche Regelung gilt auch in Großbritannien. Die Scharia-Tribunale sollen als Schiedsgerichte etwa Ehe- oder Finanzstreitigkeiten unter Muslimen bereinigen, wobei diese Entscheidungen nach britischem Recht auch von regulären Gerichten akzeptiert werden. Kritiker befürchten daher, dass mit dem Einsatz solcher islamischen Gerichte in Europa die Menschenrechte und das Prinzip des "gleichen Rechts für alle" für bestimmte Bevölkerungsgruppen schrittweise ausgehebelt wird.

(APA)

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