Ein Rabbi gegen Arbeitslosigkeit

Rabbi Yacoov Frenkel
Rabbi Yacoov Frenkel Die Presse
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Auf Initiative eines Rabbis maturierten erstmals seit 70 Jahren strenggläubige jüdische Mädchen – Männer schickt er Deutsch lernen. Die Gemeinde soll durch Jobchancen wachsen.

„Ich will unbedingt studieren. Aber ich weiß noch gar nicht, was. Ich habe plötzlich so viele Möglichkeiten“, sagt Hannah Grüßgott (19). „Vielleicht irgendwas mit Mathematik. Das war mein Lieblingsfach.“ Sie ist eine von Zigtausenden, die diesen Sommer die Matura gemacht haben – aber doch etwas Besonderes: Hannah ist eines von sechs strenggläubigen jüdisch-orthodoxen Mädchen, die im Juni erstmals seit Kriegsende – also seit 70 Jahren – eine Matura in Österreich abgeschlossen haben.

Hannah ist ultraorthodox – also streng religiös erzogen. Bis zum Ende der Schulpflicht besuchte sie eine private jüdische Schule. Buben und Mädchen werden hier getrennt unterrichtet, neben den üblichen Fächern kommen Hebräisch, Jiddisch und das Studium der Tora dazu. In der Kantine gibt es selbstverständlich nur koscheres Essen. Wie für die meisten Mädchen endete ihre Schulbildung mit der neunten Schulstufe. „Mädchen in strenggläubigen Kreisen genießen oft nicht mehr als die Grundschulbildung. Das hat zwei Gründe: Erstens fehlt in Österreich die Infrastruktur. Die Community ist so klein, dass es manchmal schwierig ist, überhaupt Klassen auf die Beine zu bringen“, sagt Ruth Winkler, selbst Jüdin, Religionslehrerin und Wissenschaftlerin. „Der zweite Grund ist, dass in manchen Kreisen das Bewusstsein noch nicht so weit war, dass Mädchen eine höhere Schulbildung brauchen.“

Bis zur Hochzeit helfen die Mädchen der Familie im Haushalt oder kümmern sich um kleinere Geschwister. Andere Mädchen, die sich weiterbilden wollen, gehen ins Ausland nach London, Israel oder Amerika – wo die Community größer ist und es daher mehr Angebote gibt. Viele bleiben dort, heiraten und kommen nicht mehr wieder. Das ist für die jüdische Gemeinde in Wien ein Problem: Einerseits hat sie Bestrebungen, sich zu vergrößern, andererseits verliert sie junge Menschen. „Die Israelitische Kultusgemeinde hat rund 8000 Mitglieder, zehn bis 15 Prozent sind der Orthodoxie zuzurechnen“, sagt Oskar Deutsch, Präsident der IKG. „Es ist wie ein Dorf, in vielen Dingen haben wir noch keine kritische Masse erreicht.“ Zwar arbeite man daran, dass im nächsten Jahrzehnt die einst so große jüdische Community (sie zählte vor dem Zweiten Weltkrieg 185.000 Mitglieder) um rund 5000 Personen anwachse – derzeit sei etwa aber gerade die Wahl des Partners sehr schwierig, weil es zu wenig potenzielle gebe. „Die jungen Menschen gehen in das Ausland – Männer wie Frauen.“

Überzeugungsarbeit leisten. Rabbi Yacoov Frenkel sieht diese Entwicklung kritisch. Er ist selbst Mitglied in der Direktion einer jüdischen Schule – ihm liegt vor allem die Bildung der Mädchen am Herzen, darum hat er den einjährigen Maturakurs initiiert, den auch Hannah besuchte, leistete viel Überzeugungsarbeit an allen Fronten. „Die Tora sagt, dass ein Mensch sein ganzes Leben lang arbeiten und lernen soll – damit er so beschäftigt ist, dass er keine Zeit hat, Sünden zu begehen“, sagt er. Seine Gemeinde möchte er dazu ermutigen, sich etwas mehr in die Welt hinauszutrauen, sich zu integrieren, einen Job zu finden. Das gilt übrigens auch für die Männer. Während die Mädchen für die Matura lernten, saß eine Gruppe Männer in einem anderen Raum und lernte Deutsch. „Unsere Gemeinde wächst in erster Linie durch Zuwanderung. Wir haben Mitglieder aus aller Welt, vermehrt aus Tschechien, Ungarn oder der Slowakei – jetzt wegen des Krieges auch aus der Ukraine. Sie müssen Deutsch lernen, damit sie hier leben und arbeiten können“, sagt Frenkel. „Teilweise leben die Menschen Jahrzehnte hier und sprechen schlecht bis wenig Deutsch. Als Jude kommt man untereinander mit Hebräisch oder Jiddisch durch – aber im Wiener Alltag und im Arbeitsleben macht das doch Probleme“, sagt er. Dabei könnte das eine Win-win-Situation für alle sein. „Wir Juden leben auf der ganzen Welt verstreut und haben normalerweise gute Netzwerke, die auch für die österreichische Wirtschaft interessant sein könnten“, sagt Frenkel. Weil etwa der koschere Markt weltweit an Bedeutung gewinne, brauchte es mehr Menschen, die als Kontrolleure arbeiten und Firmen beraten. Auch dazu habe es bereits Qualifikationskurse gegeben, einige Männer hätten sofort einen Job bekommen, dazu sei ein Projekt mit der Wirtschaftskammer (WKO) in Planung. „Hier steckt der Koscher-Markt noch in den Kinderschuhen, er wird aber noch an Bedeutung gewinnen. Wir bekommen immer wieder Anfragen von Unternehmern“, sagt auch Josef Domschitz von der Sparte Lebensmittelindustrie der WKO.

Verlängerung. Was Frenkel als Pilotprojekt mit der Unterstützung des AMS für die orthodoxen Juden gestartet hat, soll nun gemeinsam mit dem Jüdischen Bildungszentrum (JBBZ) Wien weitergeführt werden. „Für die Mädchen ist es eine wichtige Sache, und darum werden wir das auf jeden Fall weiter unterstützen“, sagt AMS-Wien-Chefin Petra Draxl. Das JBBZ ist ein Tochterinstitut des AMS. Rabbi Frenkel hofft, dass so das jüdisch-orthodoxe Leben in Wien noch attraktiver wird, Familien bleiben und noch mehr zuziehen. „Ich will, dass wir mehr werden – wir können und werden aber auch viel leisten, weil wir keine Schnorrer sind.“

EckDaten

Der Rabbi.Yacoov Frenkel ist 34 Jahre alt und Vater von vier Kindern. Er kommt aus Israel, lebt mittlerweile seit 14 Jahren hier, ist österreichischer Staatsbürger. Frenkel ist studierter Rabbiner, Direktor einer jüdischen Schule und ist in der IKG Vorsitzender der Kommission für Kultusangelegenheiten.

Die Gemeinde. Vor dem Zweiten Weltkrieg zählte die jüdische Gemeinde in Wien noch 185.000 Mitglieder, heute sind es 8000. Ein kleiner Teil – rund zehn bis 15 Prozent – ist orthodox, lebt demnach ganz streng nach den Regeln des Glaubens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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