Warten auf al-Godot: Ist der Islamist Nihilist?

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Im Buch "Der Dschihad und der Tod" deutet Politikwissenschaftler Olivier Roy den islamistischen Terror als nihilistische Jugendbewegung, das Religiöse eher als Zufallsmoment. Deradikalisierungsprogramme sieht er als Irrweg.

Wir erleben nicht die Radikalisierung des Islam, sondern die Islamisierung der Radikalität: Mit dieser griffigen Formel hat sich der Franzose Olivier Roy im vergangenen Jahr viele Gegner gemacht. Er verglich muslimische Selbstmordattentäter mit der RAF oder den Roten Khmer und zeigte sich überzeugt, dass nicht religiöser Fanatismus, sondern Nihilismus zentrale Triebkraft des islamistischen Terrors ist.

Sind muslimische Selbstmordattentäter in erster Linie radikale Neinsager, ist der Islam ein eher zufälliges „Haus“ für die Radikalität? Die These klingt selbst radikal. Man kann dem heute in Florenz lehrenden Roy freilich nicht vorwerfen, über eine ihm unvertraute Materie zu sprechen. Er forscht seit Langem über den politischen Islam und beherrscht ausgezeichnet Arabisch.

Seine These von der „Islamisierung der Radikalität“ vernachlässige freilich die sozialen Ursachen des Terrors, meinen die einen; die anderen werfen ihm vor, die Rolle des politischen Islam zu verleugnen. Beides tue er keineswegs, betont Roy in seinem soeben in Frankreich erschienenen Buch „Le Djihad et la mort“ („Der Dschihad und der Tod“), in dem er seine These weiter ausführt. „Ich sage nur, dass der Fundamentalismus nicht ausreicht, um die Gewalt zu erklären. Die gewalttätige Radikalisierung ist nicht die Folge der religiösen Radikalisierung.“

Der Tod ist Ziel, nicht Nebenwirkung

Roy geht davon aus, dass bei den Anschlägen in Europa der letzten Jahre der eigene Tod nicht Nebenwirkung, sondern gewollt sei – ja Kern des Attentats. Die islamische Tradition ehre den Tod nur als „Nebenwirkung“ des Kämpfens, aber nicht die Suche danach, auch der Salafismus verdamme den Selbstmord in jeder Form. Zum anderen verweist Roy auf die sozioökonomisch diverse Herkunft der Attentäter, die durchaus nicht nur aus Banlieues stammen, denen aber eines gemeinsam sei: Sie werden (oft nach einer Phase der Delinquenz) schlagartig radikal religiös.

Im Folgenden findet Olivier Roy eine tiefe Kluft zwischen dem Salafismus und dem islamistischen Terror, hingegen viele Parallelen zwischen der „Revolte“ der Selbstmordattentäter und Bewegungen wie der chinesischen Kulturrevolution oder den Roten Khmer in Kambodscha, aber auch zu millenaristischen mörderischen Sekten wie den Sonnentemplern in den 1990er-Jahren: den Wunsch etwa, Tabula rasa zu machen und sich als Meister der Wahrheit über die Elterngeneration zu erheben, der man Verrat vorwirft; die globale Revolte gegen die Weltordnung im Namen der Unterdrückten; und die apokalyptische Ausrichtung. Für Roy sind die jungen Selbstmordattentäter unter den europäischen Migranten eine „No Future“-Generation, fasziniert vom Tod, weil sie ein apokalyptisches Weltgefühl hätten. Die Apokalypse sei ihnen willkommen, weil sie aus dem eigenen nihilistischen Zustand einen kollektiven mache: „Sie werden nicht radikal, weil sie Texte falsch verstanden haben oder manipuliert worden sind“, schreibt Roy, „sie sind radikal, weil sie sich entschieden haben und nur die Radikalität ihnen verlockend erscheint.“ Statt Deradikalisierungsprogrammen empfiehlt er, man solle die Radikalen ernst nehmen und „sprechen lassen, so wie die Gerichtshöfe im 19. Jahrhundert den Anarchisten und den Massenmörder sprechen ließen“. Nur so könnten sie vielleicht zur Reue gelangen.

Abgesehen davon, dass diese Hoffnung wenig überzeugend klingt: In Roys Buch beißt sich die Katze in den Schwanz. Auch der Nihilismus einer Generation, für Roy die Hauptursache, kommt ja nicht aus dem Nichts. Und Roy „passieren“ sogar selbst so nebenbei einige Begründungen; etwa dass die Jungen ihre Eltern als „Loser“ sehen würden, die sich demütigen lassen. Doch die Vorstellung, dass Junge nun einmal das Radikale brauchen und es sie überkommt wie ein Naturgesetz, scheint übermächtig. So übermächtig, dass Roy sogar den radikalen Islamismus mit dem Verschwinden der großen linken Utopien im Westen in Verbindung bringt (was für ein paar Konvertiten ohne muslimischen Hintergrund relevant sein mag). Die Linke, schreibt er, habe sich „provinzialisiert“, auf dem Markt der radikalen Angebote sei jetzt niemand besser als der IS.

Auch Intellektuelle unterliegen auf dem Markt der Ideen oft dem Zwang zur Radikalisierung ihrer Positionen. So wird bei Roy aus einem interessanten Hinweis auf nihilistische Elemente in der terroristischen Agenda eine alles erklärende Theorie. Dass das spezifisch religiöse Element so ausgeblendet wird, hat aber vielleicht auch mit dem „Mangel an Fantasie“ zu tun, den der Nörgler bei Karl Kraus auf die „Verwandlung der Menschen in maschinelle Energien“ zurückführt. Der Tod, den die jungen Terroristen erwarten, ist nun einmal kein Nichts, sondern das pralle Paradies. Aversion gegen religiöse Überzeugungen kann dazu führen, dass ihre Kraft unterschätzt wird. Auch das kann gefährlich sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2016)

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