Die Himmelsstürmer von Hare Krishna

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Die Hare-Krishna-Bewegung baut an einem Tempel, der den höchsten Kirchturm der Welt überragen soll: Über den Wettlauf um Höhenmeter in der Sakralarchitektur - und wie säkulare Himmelsstürmer ihn alt aussehen lassen.

Lang ist es her, dass Kirchenmänner darum wetteiferten, wie hoch die Türme ihrer Gotteshäuser in den Himmel ragen. Der 1248 begonnene Kölner Dom war mit 157,38 Metern eine Zeitlang das höchste Gebäude der Welt, die Kathedrale von Lincoln in England übertraf ihn 1311 um knappe drei Meter. Das evangelische Ulmer Münster, das seit 1890 den höchsten Kirchturm der Welt hat, ist mit knapp 162 Metern auch „nur“ um zwei Meter höher. Die Protestanten übertrumpften damit aber auch den zehn Jahre davor endgültig fertiggestellten Kölner Dom – um rund vier Meter.

Bis heute hat kein neuer Kirchturm weltweit jenem von Münster den Rang abgelaufen. Denn der Ehrgeiz um immer neue Höhen ist längst vom religiösen in den säkularen Bereich übersiedelt. Ganz ausgestorben ist er in der Religion freilich nicht, das zeigt sich derzeit unter anderem in Indien. Die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (ISKCON) – vulgo Hare Krishna – baut an einem turmförmigen Tempel, der 2019 fertig sein soll. Er entsteht an jenem Ort in der nordindischen Region Uttar Pradesh, wo hinduistischer Überlieferung zufolge der göttliche Krishna seine Kindheit verbracht hat. Die Höhe des Vrindavan Chandrodaya Mandir, so der Name des Tempels: knapp 170 Meter.

Höchste Kirchturmspitze – in Chicago

Präsenz und Potenz, Macht und Bedeutung will die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein mit dem Vrindavan Chandrodaya Mandir erklärtermaßen demonstrieren. Darum ging es – abgesehen von der erwünschten Nähe zum Himmel – beim baulichen Streben nach Höhe immer schon, beim Turmbau zu Babel wie beim Bau der Cheops-Pyramide (die den Stephansdom trotz geringfügigen Schrumpfens immer noch um zwei Zentimeter überragt). Ein Zufall ist es wohl auch nicht, dass der neue Hindutempel den höchsten Kirchturm der Welt, den des Ulmer Münsters, um wenige Meter überragen wird. Und ganz knapp – um einen Meter – auch jenen US-Wolkenkratzer, der zwar kein reiner Kirchenbau ist, aber doch als das höchste christliche Gebäude der Welt gelten kann, mit der höchsten Kirchturmspitze: Der Anfang der 1920er-Jahre von den Methodisten errichtete Chicago Temple (169 Meter) beherbergt auch Büros, hat aber eine Spitze in Form eines gotischen Kirchturmes.

Mancherorts liest man sogar, dass der neue Hindutempel das höchste religiöse Gebäude der Welt werden soll; das stimmt aber nicht. Der höchste Sakralbau weltweit ist die 1993 fertiggestellte Hassan-II.-Moschee in Casablanca, ihr Minarett misst 210 Meter. Die christliche Sakralarchitektur hingegen hat im 20. Jahrhundert allmählich aufgehört, nach Höhenrekorden zu streben – also just in jenem Jahrhundert, in dem die Technik diese Rekorde neu befeuert hat. Viel höher als das Ulmer Münster konnte man bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht bauen, weil sonst zu viel Gewicht auf den Fundamenten lastete, das hielt der härteste Stein nicht aus. Genau in der Zeit freilich, in der die Deutschen am neuen welthöchsten Kirchturm werkten, gelang es dem Engländer Sidney Gilchrist Thomas, Stahl so zu härten, dass verhältnismäßig schmale Träger aus diesem Material größten Lasten standhalten konnten.

Ab Mitte der 1880er-Jahre entstanden in Chicago die ersten Stahlskelettbauten, und 1889, ein Jahr vor Fertigstellung des Münsters, eröffnete Gustave Eiffel ein neues welthöchstes Gebäude: den über 300 Meter hohen Eiffelturm. Während in den Jahrhunderten davor in Europa weltliche Autoritäten darauf geachtet hatten, ihre Gebäude nicht höher zu bauen als das am jeweiligen Ort befindliche Gotteshaus, hielt sich der Protest der Geistlichen nun in Grenzen, Vergleiche mit dem Turmbau zu Babel fielen sparsam aus, die Kritik war mehr ästhetisch-kultureller Natur. Berühmte Künstler wie Charles Gounod, Alexandre Dumas und Guy de Maupassant protestierten in einem offenen Brief gegen diesen „schwindelerregenden, lächerlichen Turm“, „der wie ein riesiger, düsterer Fabrikschlot Paris überragt“ und durch den „alle unsere Monumente gedemütigt, alle unsere Bauten verkleinert werden“.

So wie man einander im Kirchenbau einst um wenige Meter zu übertrumpfen versuchte, geschah es dann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit den neuen Wolkenkratzern. 1928 „siegte“ der Architekt des Chrysler Building mit einem Trick gegen die Erbauer der Bank of Manhattan (heute nach Donald Trump „Trump Building“ genannt, seit Anmietung und Umbau durch die Trump Organization Anfang der 1990er). Er ließ ganz zuletzt noch eine bis dahin geheim gehaltene Spitze draufmontieren.

Ein 1152 Meter hoher Turm im Irak

Heute machen sich Eiffelturm wie Ulmer Münster, Chrysler wie Trump Building und auch der neue Hindutempel höchst bescheiden aus gegen das derzeit höchste Bauwerk der Welt, den 2010 eröffneten Burj Khalifa in Dubai mit seinen 830 Metern Höhe. Bis 2019 soll in der saudiarabischen Hafenstadt Dschidda in der Provinz Mekka der Jeddah Tower (früher Kingdom Tower genannt) fertig werden, er soll die 1000-Meter-Grenze brechen; und das Londoner Architekturbüro AMBS will sogar diesen bei Weitem übertrumpfen – mit einem 1152-Meter-Turm namens The Bride in der irakischen Provinz Basra.

Wie aus uralten Zeiten wirkt angesichts dieser Proportionen, aber auch, weil man sich dabei an einstige christliche Konfessionsstreitigkeiten erinnert fühlt, ein Projekt in Barcelona: die 1882 begonnene und bis heute nicht vollendete Basilika Sagrada Familia in Barcelona. Sie soll, so die Kirche wie geplant 2026 doch endlich fertig wird, einen 172,50 Meter hohen Kirchturm haben: Dann wäre nach fast 130 Jahren nicht mehr ein protestantischer, sondern wieder ein katholischer Kirchturm der höchste der Welt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2016)

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