Idee: „Tempel der Zärtlichkeit“ für Gottlose

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Der Philosoph Alain de Botton rät den Atheisten, sich bei den Religionen einiges abzuschauen, um für „schwache Menschen“ weniger „kalt und ungeduldig“ zu wirken.

In erhabenen Gebäuden absolvieren Menschen gemeinschaftsstärkende Rituale, in Agape-Restaurants erzählen sie Wildfremden von ihrer Angst vor dem Tod, und Professoren predigen, wie man leben soll: So stellt sich der in der Schweiz geborene, in London lebende Schriftsteller Alain de Botton eine schönere neue Welt vor. Würde ein christlicher Weltverbesser derlei vorschlagen, es würde nicht weiter auffallen. Bei Alain de Botton ist das anders. Er ist Philosoph, schreibt erfolgreiche Bücher – und ist überzeugter Atheist.

Die Botschaft seines vor zwei Wochen erschienenen Buchs „Religion for Atheists“ hat in England und den USA schon einige aufgeregt. Die Atheisten sollen bei den Religionen klauen, empfiehlt de Botton, und zwar massiv. Denn für viele Probleme der modernen Seele finde man bei ihnen erfolgreiche Lösungen, ohne dass man dafür an Gott glauben müsse. Und, glaubt man de Botton: Der Zustand der westlichen Gesellschaft mache das bitter nötig.

Prächtiges Setting einer Messe

Die Religionen haben verstanden, wie man Gemeinschaft schafft und erhält, lautet de Bottons erste These. „Zu den größten Errungenschaften des Christentums gehörte es, Monarchen und Magnaten dazu zu bringen, die Füße von Bauern und Straßenreinigern zu waschen.“ Paradebeispiel sei der Ablauf einer katholischen Messe – angefangen vom prächtigen Setting, das einen dazu bringe, sich weniger wichtig und als Teil eines Ganzen zu sehen, über die Liturgie, die die Öffnung gegenüber dem anderen erlaube und Regeln im Umgang miteinander aufstelle, bis hin zum Abendmahl. „Wie die Juden mit ihrem Sabbat haben die Christen verstanden, dass wir uns oft gerade dann für die Bedürfnisse anderer öffnen, wenn wir unseren physischen Hunger gestillt haben.“

Religionen hätten verstanden, was der Mensch im Innersten braucht, lautet eine weitere These. De Botton lobt das Bild vom schwachen Menschen, das Nietzsche ein Gräuel war. Dem Christentum zufolge seien wir im Innersten „verzweifelte, zerbrechliche, verletzliche, sündige Kreaturen, voller Angst vor dem Tod – und nach nichts so bedürftig wie nach Gott“ – und das entspräche der Realität. Weil Menschen also Anleitung brauchen, wie sie zu leben haben, malt sich der Philosoph unter anderem Universitäten aus, in denen neue Curricula „direkt auf unsere drängendsten persönlichen und ethischen Dilemmata eingehen“.

„Im Gegensatz zu Religion neigt der Atheismus dazu, sich gegenüber unserer Bedürftigkeit kalt und ungeduldig zu verhalten“, schreibt de Botton, er empfiehlt: „Es wäre nützlich, wenn unsere säkularen Künstler ab und zu Werke schaffen würden, die die elterliche Sorge in den Mittelpunkt stellen“, wie es die Marienverehrung mache. Diese Bilder könnten dann etwa in „Tempeln der Zärtlichkeit“ ausgestellt werden. Auch Tempel für den Frühling, die Freundlichkeit oder die Selbsterkenntnis kann sich de Botton vorstellen. Weitere Ideen: elektronische Klagemauern, auf denen zwischen Jeans- und Computerwerbungen die Klagen Anonymer zu lesen seien; öffentliche Fernsehbildschirme, die neue Bilder aus dem Weltall zeigen, denn „es fehlt an Ritualen, die uns freundlich auf unseren Platz zurücksetzen“; oder auch der Einsatz der Wiederholung, um sich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt. Wenn jüdische Brautmädchen sieben Mal um die Synagoge marschieren und ihre Freude heraussingen, warum können Literaturliebhaber nicht wöchentlich so ihren Proust deklamieren?

Einiges lässt sich einwenden gegen de Bottons „Religion for Atheists“. So sind viele Praktiken, die er den Religionen anrechnet, nicht deren Erfindung, sondern z.B. die griechischer Philosophen (allerdings finden sie sich nirgendwo in so wirksamer, hochentwickelter Konzentration). Auch passiert die Nachahmung von religiösem Know-how ohnehin schon tagtäglich, durch Politiker, Manager, Marketingexperten, Psychologen.

Vorbild: Positivist Auguste Comte

Für Alain de Botton dürfte das freilich irrelevant sein. Ihm geht es um eine Art säkulare Seelsorge, ein von humanistischen Werten getragenes Gegenangebot an die Menschen. Deswegen betont er auch die Notwendigkeit atheistischer Institutionen. „Warum gibt es für das Bedürfnis nach einem Haarwaschmittel ein unübersehbares Angebot, während die Sorge um die wichtigsten Bedürfnisse in den Händen von Einzelkämpfern liegt?“

Die Grundgedanken in „Religion for Atheists“ sind alt. Den die menschliche Mündigkeit relativierenden moralischen Impetus teilt de Botton etwa mit vielen Aufklärern (ebenso wie die anachronistische Idee der Kunst als moralisches Erbauungswerkzeug). Sein wichtigstes Vorbild aber ist der Begründer des Positivismus, Auguste Comte, der als Ersatz für den in seinen Augen überholten Glauben an Gott eine „universale Religion“ entwarf. Dessen Anhänger richteten in Paris eine Art atheistischen Tempel mit Bildern säkularer Heiliger wie Shakespeare oder Gutenberg ein, auch in Brasilien bauten sie einen positivistischen Tempel. De Bottons Schlusssatz hätte Comte wohl vorbehaltlos zugestimmt: „Religionen sind zu nützlich, wirksam und intelligent, als dass man sie den Religiösen allein überlassen sollte.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2012)

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