Serbien: Die Paläste der Gastarbeiter

Serbien Palaeste Gastarbeiter
Serbien Palaeste Gastarbeiter(c) THOMAS ROSER
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In Serbiens ärmlichen Dörfern wachsen immer öfters große Prunkbauten aus dem Boden: Es sind Ferienpaläste ihrer Eigner, die im Ausland arbeiten. Meist stehen sie leer.

Die ersten Blätter fallen. Das Ende des Urlaubs in der Heimat naht. Wehmütig blickt Ljubica Antonić vor dem mächtigen Eingangsportal des Familien-Gehöfts die sonnenüberflutete Hauptstraße von Draginje herab. „Für uns wär es in unserem Dorf schöner, aber für die Jungen gibt es keine Arbeit“, seufzt die in Wien lebende Rentnerin im blau gemusterten Sommerkleid: „Aber was soll man machen? Das halbe Dorf ist im Ausland. Das Brot fällt schließlich nicht vom Himmel.“

Die Not hatte die Serbin schon anno 1969 aus ihrem Dorf unweit der Provinzstadt Šabac im Nordwesten des Landes mit ihrem Mann Branislav ins österreichische Arbeitsexil getrieben: Bis zur Pension habe er 39 Jahre, „mehr als mein halbes Leben“, auf Wiener Baustellen verbracht, berichtet der stämmige Maurer mit dem Kugelbauch. Von seinem Gehalt sparte sich die Familie im Lauf der Zeit das Geld für den Bau von drei Häusern auf ihrem Grundstück in Draginje ab: „Zwei für die beiden Söhne, eines für uns.“ Doch obwohl das Paar den Lebensabend nun in ihrem Domizil genießen könnte, macht es sich mit Söhnen und Enkelkindern nur einmal im Jahr in den Sommerferien für 15 Tage von Wien hierher auf. Bis die drei Häuser geputzt seien, sei der Urlaub auch fast schon wieder vorbei, seufzt Ljubica.

Nur die Gipsadler halten Wacht. Stolz winden sich an der Hauptstraße korinthische Betonsäulen in abenteuerliche Balkon- und Giebelhöhen. Die Fensterläden der meisten Villen sind verriegelt, die im Sommer mit ausländischen Limousinen belegten Parkplätze hinter meterhohen Torgattern bis zum nächsten Jahr oft schon wieder verwaist. Nur Gipsadler und Miniaturlöwen auf den Torsäulen halten vor den entvölkerten Gastarbeiter-Palästen einsam Wacht.

„Gastarbajter“ werden sie in Jugoslawiens Nachfolgestaaten genannt: Die Landsleute, die seit über vier Jahrzehnten Geld und besseres Leben im Ausland suchen. In Deutschland verdienen gut 400.000 davon ihr Brot, in Österreich sind sie mit bis zu 350.000 die größte fremde Volksgruppe, über die Hälfte sind Serben. In der Schweiz stellen 187.000 Serben die viertgrößte Immigrantengruppe. Rückkehr ist für die meisten undenkbar: Zu Hause liegt die Arbeitslosigkeit über 25 Prozent, die Hungerlöhne am Land unterschreiten selbst das magere Durchschnittseinkommen von umgerechnet 350 €. Nur dank Überweisungen von Verwandten kommen viele über die Runden.

Für die Familien der Emigranten sei das zerrissene Leben in zwei Ländern oft eine Belastung, berichtet in der Dorfschule von Draginje die Vize-Direktorin Dragana Curić. Die Kinder von Gastarbeitern, die bei ihren Großeltern zurückgelassen würden, fielen in der Schule durch Disziplinlosigkeit, schlechte Leistungen und mangelnde Konzentration auf. Die Kommunikation mit den Eltern werde nicht nur durch deren seltene Anwesenheit erschwert: „Oft ist ihnen die Bedeutung von Bildung kaum bewusst.“

Trotz Entbehrungen und Fleiß dümpeln die Arbeitsemigranten in der Fremde eher am unteren Ende der sozialen Pyramide. Doch zumindest in der Heimat können sie sich für wenige Wochen als Könige fühlen. Die Früchte ihrer Arbeit pflegen nämlich manche Gastarbeiter beim Heimaturlaub nicht nur mit Nobelautos zu demonstrieren. Es scheint ein regelrechter Wettbewerb um die prächtigste Villa entbrannt.


Leben in zwei Welten. Die Gatter der kunstvoll geschmiedeten Eisentore sind verriegelt, die blau gekachelten Schwimmbecken in den Innenhöfen fast überall leer: Auch im ostserbischen Smoljinac erweisen sich die meisten Prunkbauten im Neubauviertel als leer. Vor einem fünfstöckigen Wohnklotz lädt ein älteres Paar pralle Einkaufstaschen aus ihrem Mercedes mit österreichischem Kennzeichen aus. Ja, obwohl sie in Rente seien, pendelten sie wegen der Kinder und Enkel noch immer zwischen Wien und Smoljinac hin und her, lässt die sorgfältig geschminkte Frau wissen. Nein, ein Problem sei das keineswegs: „Wir leben ja schon das ganze Leben in zwei Welten.“

Rund die Hälfte der Gastarbeiter der ersten Generation sei ins Dorf zurückgekehrt, doch die Kinder blieben meist in Österreich oder Deutschland, erzählt vor seinem ummauerten Anwesen einsilbig der silberhaarige Rentner Ljubiša Tadić. 19 Jahre habe er in Wien gearbeitet, sein Sohn sei vor drei Jahren bei einem Autounfall verstorben, berichtet er mit tonloser Stimme: „Wir haben uns immer abgeplagt. Das Leben war schwer – ob hier oder dort.“

Rund ein Drittel des Dorfes lebe in der Fremde, schätzt in einem Café an der Hauptstraße von Smoljinac der kurzhaarige Maurer Goran: „Jede Familie hier hat mindestens einen Angehörigen im Ausland.“ Für die Bewohner der abgelegenen Landgemeinde 20 Kilometer im Osten von Požarevac seien die staatlichen Fabriken zu jugoslawischen Zeiten einfach zu entfernt zum Pendeln gewesen, erklärt er, warum die Auswanderung hier schon in den 1960er-Jahren begann. Als Hausmeister, Schlosser oder Bauarbeiter hätten sie im Ausland versucht, sich „zumindest normale Lebensbedingungen“ zu schaffen. In der Region seien die Durchschnittsgehälter mittlerweile auf 150 Euro im Monat gesunken, meist schwarz bezahlt und ohne Entrichtung von Sozialabgaben, erklärt er die anhaltende Abwanderung: „Zum Leben brauchst du auch hier minimal 200 bis 300 Euro im Monat. Egal, wie viel du arbeitest oder einzusparen versuchst: Hier bist du immer im Minus.“

Laut Goran, der als Nebenerwerbsmusiker mit seiner Band regelmäßig in der Diaspora gastiert, leben die Landsleute in der Ferne zwar nicht im Luxus, aber in sicheren Verhältnissen. Wenn auch die Frau und vielleicht noch ein Kind arbeite und jedes Familienmitglied 1200 Euro verdiene, ließe sich schon etwas beiseite legen. Dass die Gastarbeiter ihre Ersparnisse in den Umbau ihrer Höfe in hermetisch gesicherte Wohnburgen investieren, hält er indes für einen Fehler: „Es wäre sicher schlauer, das Geld in ein Geschäft zu investieren, das den Kinder den Verbleib im Dorf ermöglichen könnte.“

Doch auch für Selbstständige gebe es in Serbien kaum Sicherheit, meint Goran: „Die Investition in einen Traktor hilft wenig, wenn es für Bauern keine garantierten Abnehmerpreise gibt: Die Landwirtschaft ist zusammengebrochen.“ Viele seiner Exil-Freunde kämen zurück, könnten sie wenigstens 400€ verdienen, sagt der Handwerker: „Stattdessen wird das Dorf leer. Jedes Jahr werden weniger Kinder eingeschult. Von den Gastarbeitern kommen trotz ihrer Häuser oft nur die Alten zurück.“

Auf Stil-Auskenner hört hier keiner.Zwei ausladende Freitreppen winden sich von der Terrasse des verlassenen Emigranten-Palastes in den verwilderten Garten hinter dem Schmiedetor herab. „Schlösser zum Vorzeigen“ nennt das Wochenblatt „Nin“ die Wohnburgen, mit denen die Besitzer ihr ertragreiches Wirken im Exil in ihren entvölkerten Dörfern manifestieren. Ob Säulen oder Erker, Türme oder Amphoren: Antike und Barock kennen im protzigen Fassadenschmuck keine Berührungsängste. Der Baustil lasse sich kaum umschreiben, sagt Architekt Miodrag Ninić: „Alles, was die Eigner in den Ländern gesehen haben, wo sie den größten Teil ihres Lebens waren, übertragen sie auf ihre Höfe. Jeder will zeigen, wo er war, was er tat. Und das eigene Haus ist dafür das beste Mittel.“

Sie wollten ihrer Familie „etwas hinterlassen“, ist häufige Erklärung der Eigner für ihre Wohntempel. Doch für die Erben werden die, weil erhaltungsintensiv, meist kostspielig, und als gewinnträchtige Geldanlage taugen sie auch nicht. Wegen der Abwanderung und des Verfalls der Immobilienpreise wäre für die Wohnburgen oft nicht einmal der Materialpreis zu erzielen.

Wirtschaftlich bringe die Emigration dem Dorf wenig, mäkelt in Draginje eine blonde Angestellte, die ihren Namen nicht nennen mag. Mit ihren „kitschigen“ Häusern wollten die Gastarbeiter genauso wie mit ihren großen Autos angeben, meint sie. Weder den Angehörigen, die fast das ganze Jahr auf die Häuser aufpassen müssten, noch dem Dorf brächte die „sinnlose Investition in die übergroßen Häuser“ etwas.

Schund und Kitsch bis zum Himmel.Kommentatoren im Internet reagieren eher höhnisch auf den Baudrang der „Gastarbajter“. „Merkwürdig“ nennt eine Frau auf der Site des TV-Senders „B92“ die Landsleute, die sich in der Ferne plagten, um sich „als totes Kapital ein Lebensdenkmal zu mauern“. Über „Schund und Kitsch bis zum Himmel“, lästert ein Jovan. „Lasst sie in Frieden“, zeigt sich ein anderer vom Spott genervt. Im Gegensatz zu anderen zweifelhaften Villenbesitzer hätten die Gastarbeiter ihren Besitz mit redlicher Arbeit verdient: „Jeder hat das Recht, mit seinem Geld zu machen, was er will.“

Der Mann im Unterhemd vor dem imposanten Klinkerbau an der Hauptstraße von Draginje blinzelt in die Mittagssonne. Er sei kein Gastarbeiter, schüttelt er sein stoppelbärtiges Haupt. Er schaue nur nach dem Rechten im Haus seines Bruders: „Sein Urlaub ist vorbei, die Kinder müssen in Österreich in die Schule.“ Im Dorf sei es wieder „sehr ruhig“ geworden: „Was soll man machen? Die Leute gehen zur Arbeit ins Ausland, weil's hier keine gibt.“

Auch Branislav Antonić wird vor der Rückkehr nach Wien sein Gehöft wieder für ein Jahr verriegeln. „In Österreich sind wir Ausländer, hier Touristen“, sagt der Rentner beim Abschied und zuckt mit den Schultern.

ArbeitSKRÄFTE? Menschen!

Die Geschichte der serbischen Zuwanderung nach Österreich beginnt nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg: Schon im Gefolge des türkischen Feldzuges gegen Wien 1683 zogen (nicht immer freiwillig) viele Serben mit, meist Händler und Handwerker. Nach dem türkischen Abzug blieben die meisten in und um Wien zurück und siedelten sich speziell im „Ratzen-
stadl“ an, dem späteren Magdalenengrund im 6. Bezirk.

Um 1900 zogen Serben verstärkt ins Gebiet des heutigen Österreich, meist nach Wien, blieben aber im Vergleich etwa zu tschechischen Migranten eine kleine Minderheit. Manche kamen ganz nach oben, etwa Feldmarschall Svetozar Boroević von Bojna, der 1915–'18 die Isonzofront gegen Italien erfolgreich hielt.

1961 beschloss die Regierung wegen des Wirtschaftsbooms die „vorübergehende“ Öffnung des Arbeitsmarktes für Fremde. Ab 1966 setzt der Massenzuzug ein, nachdem Österreich ein Anwerbeabkommen mit Jugoslawien geschlossen hatte. 1973 waren 227.000 Gastarbeiter hier, davon wohl die Hälfte Serben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2012)

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