Italien: Wissenschaftler protestieren gegen "Erdbeben-Urteil"

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Sechs Seismologen wurden im mittelitalienischen L'Aquila wegen Verharmlosung der Erdbebengefahr am Montag zu sechs Jahren Haft verurteilt. Vielfache fahrlässige Tötung, urteilte der Richter.

Rom/P. k. „Absurd“, „gefährlich“, „verrückt“. Ein Aufschrei ging am Dienstag durch die internationale Wissenschaftsgemeinde, nachdem ein Gericht im mittelitalienischen L'Aquila Montagabend sechs Seismologen und den Vizechef des Zivilschutzes zu sechs Jahren Haft verurteilt hatte, weil sie Ende März 2009 die Gefahr eines Erdbebens heruntergespielt hatten. Sechs Tage danach bebte die Erde doch – und 309 Menschen wurden unter den Trümmern begraben. Vielfache fahrlässige Tötung, urteilte der Richter.

Die Menschen in L'Aquila waren im Frühjahr 2009 voller Angst, seit Weihnachten hatten Erdstöße steigender Intensität und Häufigkeit ihre Region erschüttert. Da trommelte Zivilschutzchef Guido Bertolaso seine „Kommission für Großgefahren“, darunter Italiens führende Seismologen, in L'Aquila zusammen – um, wie ein Telefonmitschnitt bewies, „jedweden Schwachkopf zum Schweigen zu bringen“, der vor einem großen Beben warnte.

„Wenn die mich bitten, sage ich das halt“

Die Wissenschaftler hatten also gewisse Vorgaben – und schwiegen in der Runde zu den beschwichtigenden Worten des Zivilschützers, wider besseres Wissen. Enzo Boschi etwa, der vielfach gefeierte Chef des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie, hatte 1995 vorhergesagt, „innerhalb von 20 Jahren“ werde es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Großbeben in L'Aquila kommen. Beim Expertentreffen verschwieg er dies. Vor Gericht sagte er nun, „Herr des Verfahrens“ sei eben die Zivilschutzbehörde gewesen: „Wenn die mich bitten, dieses oder jenes zu sagen, dann sage ich das.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2012)

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