Bulgarien: Im Land der unglücklichsten Europäer

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Armut und Perspektivlosigkeit treiben immer mehr Bulgaren in den Freitod. Die Übergangsregierung will mit einer Kampagne gegensteuern.

Belgrad/Sofia/Wien. Die Welle der versuchten Selbstverbrennungen in Bulgarien reißt nicht ab. Am Wochenende hat ein 73-Jähriger versucht, sich mit Benzin in Brand zu setzen. Der Mann hat sich am Sonntag zur Mittagszeit in Sofia zum Präsidentenpalast begeben. Da er einen Kanister mit Benzin in der Hand hielt, wurden die umstehenden Sicherheitskräfte auf ihn aufmerksam. Bevor er sich in Brand setzen konnte, überwältigten sie ihn. Der Mann ist in Polizeiobhut und wird von einem Psychologen betreut.

Der Fall ist noch einmal glimpflich ausgegangen, doch in einigen anderen Fällen kam jede Hilfe zu spät. Vier Bulgaren sind in den vergangenen fünf Wochen schon an den Folgen ihrer Selbstentzündung gestorben. Drei weitere Opfer von Selbstverbrennungen ringen noch mit dem Tod. Erst vergangene Woche verstarb ein Mann im Marinekrankenhaus in der Schwarzmeerstadt Varna. Er stammte aus dem armen Nordosten des Landes und hatte sich im Stadion des Dorfes Sitowo angezündet. Der 40-jährige arbeitslose Vater eines Kindes ist das bisher letzte Todesopfer.

Verzweifelte Pensionisten

Armut und Hoffnungslosigkeit lassen im ärmsten Land der Europäischen Union immer mehr Bulgaren den Freitod suchen: Allein in der Hauptstadt Sofia haben sich in den ersten zwei Monaten des Jahres 131 Menschen das Leben genommen - die Zahl der versuchten Selbstmorde wird sogar auf das Vierfache geschätzt. „Totale Verzweiflung" konstatiert die Zeitung „Monitor" vor allem bei Pensionisten und Mittellosen: „Schaut her, ich brenne - das ist ihr paradoxer Schrei um Hilfe."

„Verzweifelte Bulgaren" heißt das zu Wochenbeginn angelaufene Aktionsprogramm, mit dem Bulgariens geschäftsführende Regierung der Welle von Armutsselbstmorden Einhalt zu gebieten versucht.
Die Gesundheitsdienste und Psychologen des 7,3 Millionen Einwohner zählenden Balkanstaats sind angehalten, verstärkt den Kontakt zu verzweifelten Selbstmordkandidaten zu suchen. Unmittelbare Resultate seien von der eher hilflos wirkenden Kampagne nicht zu erwarten, räumt der stellvertretende Gesundheitsminister, Miroslaw Nenkow, ein, der deren Zielsetzung offenbar bewusst bescheiden setzt: „Wenn zumindest ein Mensch vom Selbstmord abgehalten werden kann, ist diese Maßnahme ein Erfolg."

Doch am tristen materiellen Los vieler Bulgaren kann auch der Zuspruch von Psychologen nichts ändern. Trotz des EU-Beitritts im Jahre 2007 muss ein Fünftel der Bevölkerung mit weniger als 120 Euro pro Monat über die Runden kommen: Laut jüngsten Eurostat-Erhebungen sind gar 49,1 Prozent der Bulgaren von extremer Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.

Vergeblich hat Patriarch Neofit, das neue Oberhaupt der bulgarisch-orthodoxen Kirche, zu Monatsbeginn seine Landsleute aufgerufen, vom „Extrem" des Selbstmords abzusehen. Die Nachricht der sich mehrenden Selbstmorde scheint viele in ihrem Todeswunsch eher noch zu bestärken. Täglich würden Menschen sich erhängen, sich vor Züge werfen, von Brücken oder Hochhäusern springen, berichtet die Agentur Novinite: „Eine Selbstmordwelle scheint Bulgarien zu überschwemmen."

Hohe Armutsraten

Mit einem „Massenselbstmord" verzweifelter Landsleute sei zu rechnen, warnt der Psychologieprofessor Petar Iwanow. In der Europäischen Union liege sein Land nur bei den Analphabeten- und Armutsraten ganz vorn: „Unser Land ist das ärmste in der EU", sagt Petar Iwanow. „Und die Bulgaren sind die unglücklichsten Europäer."

Auf einen Blick

Am Wochenende hat erneut ein Bulgare versucht, sich in Brand zu setzen. Das wurde von der Polizei verhindert. In den vergangenen fünf Wochen sind vier Bulgaren an den Folgen ihrer Selbstverbrennung gestorben, drei überlebten schwer verletzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2013)

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