Bayern: Gezüchtigt für das Seelenheil

GERMANY POLICE TAKE CHILDREN FROM RELIGIOUS COMMUNITY
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Polizisten holten 40 Kinder aus der ultrakonservativen christlichen Sekte Zwölf Stämme. Die Mitglieder sollen diese geprügelt haben, um ihren Willen zu brechen.

Berlin/Gau. Es ist ein Bild wie aus einem Heimatfilm: ein früheres Kloster auf dem Land, im Hof alte Bäume und Blumen, ringsum Weiden und Felder. Ein Idyll, das trügt? Hier im Weiler Klosterzimmern, bei Deiningen im westbayerischen Schwaben, leben an die 100 Mitglieder der kleinen christlichen Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme ein scheinbar gottgefälliges Leben. Seit Donnerstag freilich ohne Nachwuchs: Denn eine Hundertschar von Polizisten holte im Morgengrauen alle ihre Kinder ab, um sie Pflegeeltern und Heimen zu übergeben.

Auch im nicht allzu weit entfernten Wörnitz im Kreis Ansbach brachte die Polizei Kinder und Jugendliche im Alter zwischen eineinhalb und 17 Jahren in Sicherheit. Grund: Das Amtsgericht sah ihr „körperliches und seelisches Wohl nachhaltig gefährdet“. Die Richter entzogen den Eltern per einstweiliger Anordnung das Sorgerecht. Aussteiger der Sekte hatten nämlich schlimme Vorwürfe erhoben: Die Kinder sollen mit Ruten geprügelt, wochenlang isoliert und geächtet werden. Kleinkinder wickle man so eng in Tücher, dass sie sich nicht bewegen können – so lange, bis sie das Schreien erschöpft aufgeben.

Ein Jugendsamtsleiter, der bei der Polizeiaktion dabei war, berichtet, so eine Inobhutnahme habe er in 40 Dienstjahren noch nie erlebt. Die Kinder seien emotionslos gewesen, als man sie ihren Eltern wegnahm, hätten „nicht geklammert und nicht geschrien“. Das gebe ihm „sehr zu denken“. Die Vorwürfe über brachiale Erziehungsmethoden bei den Zwölf Stämmen sind nicht neu. Nach einem „Focus“-Bericht im Vorjahr hat die Justiz ermittelt. Mit einem seltsamen Ergebnis: Den Ermittlern war klar, dass Kinder geschlagen würden; einige Eltern hatten es zugegeben. Aber für eine Anklage waren die Taten nicht „konkret“ genug.

Die Anhänger der Zwölf Stämme sehen sich in der Nachfolge der Urchristen. Sie leben in Kommunen, abgekoppelt von der Zivilisation und folgen streng dem Wortlaut der Bibel. Die Männer haben meist lange Haare und Bärte. Die Frauen müssen ihnen gehorchen und weite Gewänder tragen, um keine sexuelle Lust zu wecken.

Die Kommunen leben autark. Alle Mitglieder arbeiten in der Landwirtschaft, verzichten auf Lohn und Eigentum. Hilfe vom Staat lehnen sie ab. Sport ist geächtet, Rockmusik des Teufels. In Lehrtexten werden Schwarze als minderwertig bezeichnet: Sklavenarbeit sei für sie die einzige Möglichkeit, Nützliches zu leisten.

Dauerstreit um Schulpflicht

Die Kinder dürfen an keine öffentliche Schule, denn dort wären sie einer weltlichen Sexualerziehung und der verwerflichen Evolutionstheorie ausgeliefert. Also wird ihnen bibelkonformes Wissen zu Hause vermittelt – was in Bayern ab 2003 zu Dauerstreit mit den Ämtern führte, die die Schulpflicht durchsetzen müssen.

Der Versuch, den Zwölf Stämmen eine Privatschule mit Auflagen und Kontrollen zu genehmigen, scheiterte endgültig Ende Juli: Die hiesige Kommune konnte für das neue Schuljahr keine qualifizierten Lehrer nennen. Bei der Erziehung der Kinder beruft sich die Glaubensgemeinschaft auf eine Stelle im Alten Testament: „Wer sein Kind nie schlägt, der liebt es nicht.“ Doch dahinter steckt noch mehr.

Der „Apostel“ Elbert Spriggs, der die Sekte Anfang der Siebzigerjahre in den USA gründete, fordert von seinen etwa 2000 Anhängern in Amerika, Australien und Europa strengen Gehorsam. Gott habe ihm kundgetan, dass sie dessen Stellvertreter auf Erden seien. Von den Kindern aber, von ihrer Bereitschaft zur Unterwerfung, hänge es ab, ob die Gemeinschaft bis zum Jüngsten Gericht bestehe. Daher sei es wichtig, ihren abweichenden Willen zu brechen.

Die weggebrachten Kinder und Jugendlichen stehen vor einem ganz neuen Leben. Nach den Ferien werden sie eine öffentliche Schule besuchen. Sie müssen lernen, mit Geld umzugehen, Handys zu bedienen, sie kommen in Kontakt mit Ärzten, Friseuren, Fußball, Popmusik und kurzen Röcken. In ein paar Tagen dürfen sie kurz ihre Eltern sehen; einige Kinder werden sich wohl, der ihnen oktroyierten Lehre gemäß, für „ewig verdammt“ halten – und manche für erlöst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2013)

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