In Tuzla lassen Arbeiter stillgelegter Industriebetriebe ihrem Frust freien Lauf: Sie protestieren gegen schiefgegangene Privatisierungen. 22 Menschen wurden verletzt, 24 Demonstranten wurden festgenommen.
Sarajewo. Das Gebäude der Regionalregierung wurde mit Eiern beworfen, das erste Stockwerk zerstört, Reifen brannten, die Kantonsflagge wurde angezündet: Seit Tagen finden in der Industriestadt Tuzla im Nordosten von Bosnien und Herzegowina Demonstrationen statt. Frühere Arbeiter aus heute stillgelegten Industriebetrieben und junge Leute der Facebook-Generation lassen ihrem Frust freien Lauf: Sie werfen den Kantonsbehörden in Tuzla Unfähigkeit vor, die Probleme der Region zu lösen. Denn 55 Prozent der Menschen im Kanton sind angesichts der fehlgeleiteten Privatisierungspolitik arbeitslos geworden, und eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht.
Am Mittwoch kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. 22 Menschen wurden verletzt, darunter 17 Polizisten, 24 Demonstranten wurden festgenommen. Und die Proteste scheinen sich auszuweiten: „Diebe“ schrieben Demonstranten in Sarajewo an das Gebäude des Kantons, vor dem sich am Donnerstagnachmittag Hunderte aus Solidarität mit den Menschen aus Tuzla versammelten. Auch in der Hauptstadt der serbischen Teilrepublik Banja Luka wurde zu Kundgebungen aufgerufen.
Zu Tode privatisiert
Die Demonstrationen sind offenbar Ausdruck einer in ganz Bosnien und Herzegowina vorherrschenden Hoffnungslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit im gesamten Land liegt bei offiziell 27,5 Prozent, in Wirklichkeit dürfte sie höher sein. Während Kroatien in die EU aufgenommen wurde und Serbien mit den Gesprächen über die Integration begonnen hat, gibt es nach Ansicht von diplomatischen Beobachtern in Sarajewo keine Hoffnung auf eine positive Entwicklung in Bosnien und Herzegowina.
Die Privatisierung der noch vor dem Krieg 1992-95 produktiven, diversifizierten und durchaus konkurrenzfähigen Industrie der Stadt Tuzla ist gründlich schiefgelaufen. Eigentlich ist Tuzla reich: Salz und Kohle bilden die Rohstoffe für Chemiefirmen, ausgedehnte Waldgebiete lieferten Holz für die Möbelindustrie, weiterhin verarbeiteten mehrere Firmen die landwirtschaftlichen Produkte der fruchtbaren Region. Die Privatisierung dieser Firmen seit 1998 führte nicht zu einem neuen Aufschwung, sondern zu ihrer gründlichen Zerstörung: Mehr als die Hälfte der privatisierten Betriebe sind stillgelegt.
Zehntausende von Arbeitern und Angestellten, die anfänglich über Anteilscheine am Besitz ihres Betriebes beteiligt waren, sind nach Ansicht der Demonstranten von Politikern und Geschäftemachern betrogen worden.
Das Land, in den 1990er-Jahren lange ein Kriegsschauplatz, ist nicht nur nach ethnischen Gesichtspunkten gespalten, nach Meinung der Demonstranten bedienten die Parteien nur ihre Klientel aus dem Staatssäckel – für die Zukunft des gesamten Landes und der Bevölkerung würde nichts getan.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2014)