Explosionskatastrophe von Gerdec: „Jeder hat davon gewusst“

(c) Reuters (ARBEN CELI)
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Nach der Explosions-katastrophe in Albanien mehrt sich Kritik an der Regierung. Für die Opfer, die alles verloren haben, hat es bisher keinerlei Entschädigung gegeben.

Gerdec. Verloren ragt ein Elektro-Kabel aus der brüchigen Decke, feiner Staub überzieht eine zerborstene Kommode. „Komm rein, die Tür steht bei uns für Gäste immer offen“, sagt Turshe Sena mit einem bitteren Lächeln. Denn Türen hat die Ruine ihres zerstörten Heims keine mehr. Auf einem Hügel unweit der Schnellstraße zwischen Tirana und der Hafenstadt Durres hatte die frühere Landarbeiterin gemeinsam mit ihrem Mann Hamid 1995 mit ihren wenigen Ersparnissen ein schmuckes Dreifamilienhaus gebaut.

Lebenswerk zerstört

Alles, was die Familie hatte, habe sie in das Haus investiert, erzählt die 55-Jährige, während sie durch die Trümmer ihres Lebenswerks schreitet. Dort, wo einst die Esszimmerwand war, schweift der Blick ihres Mannes vom zweiten Stock über die Mondlandschaft entwurzelter Baumstümpfe, eingefallener Dachstühle und entbeinter Ruinen. Beim Mittagessen sei er an jenem verhängnisvollen Samstag mit seiner Frau gesessen, als die Druckwelle der Explosion Scheiben und Türen eindrückte, erinnert sich Hamid an den 15.März, den Tag, der das Leben der Menschen in Gerdec aus den Fugen gerieten ließ. Die Detonation sei gewaltig, der Himmel schwarz gewesen: „Wir sahen die Arbeiter vom Tor flüchten, einen Rauchpilz auf uns zu kommen. Geschosse schwirrten durch die Luft.“

Hinter frisch gespanntem Stacheldraht klafft ein tiefer Krater im kahlen Tal: Vom einstigen Munitionsdepot sind nur aufgestapelte Granathülsen geblieben. Vom Haus der einstigen Nachbarn unmittelbar am früheren Eingangstor zum Militärgelände sind bloß Betonpfeiler übrig geblieben: Alle fünf Mitglieder der Familie Deliu seien umgekommen, „der jüngste Sohn war vier Jahre alt“.

Lukratives Geschäft

26 Tote und über 300 Verletzte forderte die Serie von Explosionen. Im Umkreis von drei Kilometer bohrten sich während des stundenlangen Infernos Granaten in den Grund. Das Unglück war keine Naturkatastrophe: Im Auftrag der Nato wurden in dem Lager bis zu 50 Jahre alte Waffen- und Sprengstoff-Bestände aus der sozialistischen Ära des Balkanlandes zerstört. 100.000 Tonnen an Munition hatte der einstige Diktator Enver Hodscha angehäuft.

Medien-Recherchen und Justiz-Ermittlungen brachten noch einen Aspekt zu Tage: Der Handel mit der Alt-Munition und betagten Granaten war ein lukratives Geschäft. Die angeheuerten Tagelöhner in dem Armee-Camp hatten keine Schulungen erhalten, auch viele Kinder arbeiteten dort. Außer einem Rauchverbot gab es keine Sicherheitsvorkehrungen. Als 2007 die US-Waffenhändler-Firma AEY begann, in Albanien Altmunition zum Export nach Afghanistan aufzukaufen, nahm der Umfang der verarbeiteten Munition drastisch zu.

Unmittelbar nach der Katastrophe erklärte der Verteidigungsminister seinen Rücktritt. Der Eigentümer der Firma Alba Demil, die im Auftrag des Ministeriums das Lager betrieb, sitzt in Haft. Anfang April erhielt Albanien zwar endlich die ersehnte Einladung zum Nato-Beitritt. Doch so richtig mag Premier Berisha sich nicht zu freuen.

Recherchen der „New York Times“ über den dubiosen Waffenhandel der AEY brachten nicht nur seine Regierung, sondern auch ihn selbst ins Gerede. Er habe keine Informationen über die Gefahren der „Todesfabrik“ gehabt, versicherte er mehrfach: „Ich wusste nicht einmal von ihrer Existenz.“ Jeder habe gewusst, was in dem Lager passierte, „auch der Premier“, ist hingegen Turshe Sani überzeugt. Über Einkünfte verfügt ihre Familie derzeit nicht, Entschädigung haben sie bisher keine erhalten, klagt die Frau: „Sie haben unsere Namen auf eine Liste geschrieben – das war alles.“

AUF EINEN BLICK

Das Explosionsunglück im albanischen Gerdec im März forderte 26 Tote und 300 Verletzte. Von der lukrativen Demontage von Altmunition hatten nicht nur zweifelhafte Geschäftsleute profitiert, sondern auch korrupte Politiker: Der Skandal erstreckt sich bis in die Regierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2008)

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