Kaffee verkehrt: Wien liegt nördlich von Berlin

In einer Villa auf dem Land hat ein Werber-Paar sein Wohnzimmer in ein Wiener Kaffeehaus verwandelt. »Das geht nie«, warnten Freunde und Banken. Heute zollen sogar Österreichs Kaffeesieder dem »Morgenrot« Respekt – per Ehrentitel.

Das Kaff heißt Hohen Neuendorf. Es liegt in der Mark Brandenburg im Norden von Berlin und ist gerade noch mit der S-Bahn zu erreichen. Eines dieser Schläferstädtchen mit viel Ost-Tristesse, holprigen Straßen und Diskontmärkten. Ein Ort, wie geschaffen für Schützenvereine, Kännchenkaffee und Schwarzwälder Kirsch. Ausgerechnet hier haben Eva und Axel Bollmann ein Wiener Kaffeehaus eröffnet, das vor Authentizität nur so trieft.

Vergessene Varianten. Noch dazu in der eigenen, pittoresk verwitterten Gründerzeitvilla: Sie zogen einfach aus der Beletage in den Stock darüber. Bilder, Teppiche und Bücher blieben da, hinzu kamen Thonetstühle und Kaffeehaustische mit Marmorplatten und gusseisernem Fuß. Auf die Karte des „Morgenrot“ setzten sie Altwiener Varianten wie Kaffee verkehrt oder den überstürzten Neumann, die selbst hierzulande kaum noch jemand kennt. „Oh Gott, das klappt nie“, stöhnten Freunde. „So was läuft hier oben nicht“, erklärte fachkundig die Bankberaterin und verweigerte jeden Kredit. Bis dahin hatte das Ehepaar eine Werbeagentur in Berlin betrieben und seinen Kunden verrückte Ideen präsentiert. Jetzt mussten sie selbst daran glauben.

Axel (53) wuchs in Wien auf, Eva (48) ist aus Frankfurt. Als Ostpioniere restaurierten sie die Kaufmannsvilla, bekamen zwei Töchter – und erkannten 2004, dass ihnen der Stress zu viel wurde. Wehmütig dachte Axel an seine Bummelstudentenzeit zurück, als er Nachmittage im Kaffeehaus als verlängertem Wohnzimmer verträumte – und der Plan ward geboren.

Eva schupft den Laden (ihr zweiter Vorname ist Tiffany, was ihr nun erlaubt, mit „Frühstück bei Tiffany“ zu werben). Axel sorgt für originale Zutaten: Weine vom Kattinger aus Stammersdorf, Römerquelle, Almdudler, Mautner Markhof Senf zu den Debreczinern. Selbst die Teebutter ist aus Österreich. Die Torten liefert ein Edelpatissier aus Berlin. Barista-Autodidakt Axel bereitet seine eigene Bohnenmischung zu und reist zu Plantagen in Guatemala und Ruanda. Das beeindruckt sogar den Klub der Wiener Kaffeehausbesitzer, die das „Morgenrot“ zum bisher einzigen „Botschafter der Wiener Kaffeehauskultur“ erhoben.

Gäste kommen mittlerweile von weit her. Am Wochenende oder bei Heurigenabenden mit Zithermusik ist ohne Reservierung kaum ein Platz zu bekommen. Aber wer einmal sitzt, darf bleiben, so lang er will. Erst ist sie den Nordlichtern sehr fremd, dann lernen sie sie lieben: Die Kunst der Entschleunigung, die zum Kaffeehaus gehört wie das Glas Wasser zur Melange.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2014)

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