Ein Gotteskraut als Massendroge

PERU COCA FARMERS
PERU COCA FARMERSEPA
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Der Anbau der Kokapflanze sichert das Überleben der bolivianischen Bauern. Doch was zunächst für den Inlandskonsum gedacht war, hat einige Regionen der Welt ins Chaos gestürzt.

Man muss ihn nicht sonderlich zart anfassen. Der Kokastrauch ist ein zähes Gewächs, das ist leicht zu erkennen, wenn man Doña Elvira bei der Ernte zusieht. Mit jahrzehntelanger Übung lässt sie die flexiblen Zweige der brusthohen Pflanze von innen nach außen durch ihre robusten Finger gleiten. Die abgerupften Blätter, oval, saftig grün, etwa fünf Zentimeter lang, sammelt sie in jenem Mehlsack, den sie sich um den Bauch gebunden hat. Binnen dreier Minuten hat sie die Staude entlaubt und nimmt sich die nächste vor.

Erntealltag in den Yungas, den Regenwäldern an Boliviens östlichem Andenabhang. Eine Landschaft, die akademische Maler kaum perfekter hätten ins Bild setzen können, voll gierigem Grün, stürzenden Wasserfällen, rollenden Hügeln, über deren Gipfel sich Nebelfetzen verhaken, und dem verschneiten Hochgebirge im Hintergrund. Jenseits des Tals hockt auf einem Bergrücken die Provinzmetropole Coroico. Und am Hang gegenüber geht Vegetation in Rauch auf, ein neues Feld entsteht, für noch mehr Koka.

Einst galt es dem Volk der Aymara als „Kraut der Götter“. Heute wird daraus Gift für die Welt. Erythroxylum Coca aus der Familie der Rotholzgewächse ist ein Gewächs, wie es sich alle Bauern dieses Planeten wünschen würden. Bis zu sechzig Jahre lang gibt ein Kokafeld Ertrag. Viermal jährlich können die Sträucher geerntet werden.

Als sich die Sonne schon hinter das Hochgebirge verzieht, endet das Tagwerk, der Grundherr erscheint, um die Ernte zu wiegen und die vier Frauen auszubezahlen. 150 Bolivianos, knapp 16 Euro, wird jede heimbringen. Don Zacarías, der mit seinem Neffen die zwei jeweils 35 Kilo schweren Säcke anderthalb Stunden bergauf schleppt, wird die Blätter für 150 Euro an den Aufkäufer weitergeben, wenn am nächsten Morgen das Wetter mitspielt und der Ertrag auf Planen auf dem Dorfplatz getrocknet werden kann.

Lebensversicherung Koka. Anderthalb Stunden Sonne reichen, um die fruchtig duftenden Blätter in jene trockene Handelsware zu verwandeln, die Don Zacarías mit furchigen Händen in einen roten Plastiksack stopft. „Die Koka ist unsere Lebensversicherung“, sagt der Aymara, dessen rechte Backe von Blättern gebläht ist. Die Prise Kalk, die er dazu in den Mund nimmt, hilft, ein Alkaloid freizusetzen, das Hunger zähmt und leicht aufputscht. Auch ist Koka reich an Vitamin C. Und sie ist das einzige Produkt der Yungas, das ganzjährige Einkünfte garantiert. „Früher pflanzten wir hier auch Kaffee, Kakao und Zitrusfrüchte. Aber gegen die Agroindustrie haben wir keine Chance. Gott sei Dank dürfen wir hier Koka anbauen.“

Seit 1988 gilt das Gesetz 1008, das es, entgegen allen UN-Konventionen, erlaubt, den Kokastrauch anzupflanzen – ausschließlich für den inländischen Konsum als Blätter, Tee oder für kosmetische und medizinische Anwendungen. Die Yungas, in denen seit Jahrhunderten Koka wächst, gelten in dem Regelwerk als „traditionelle Zone“. Im ganzen Land sind 12.000 Hektar Anbaufläche legalisiert – ausschließlich in den Gebieten Nordyungas, Südyungas und Apolo sowie dem südlichen Gebiet Chapare, das in dem Gesetz jedoch als eine „Zone im Übergang“ definiert ist, die sich nach und nach von Koka befreien sollte. Doch seitdem die Vorschrift erlassen wurde, hat sich viel zugetragen.

Kokain ist zur Massendroge mutiert. Mittelamerika wurde während der vergangenen drei Jahrzehnte erst zum Drogenkorridor und dann zur mörderischsten Weltgegend, in Westafrika wandelten sich ganze Staaten wie etwa Guinea-Bissau zu Kokainumschlagplätzen. In Kolumbien und Peru finanziert der Drogenhandel Guerillas, und in Bolivien ist seit 2006 Evo Morales Präsident, der bis heute Boss der Koka-Gewerkschaft geblieben ist. Das ist kein Detail, denn Morales' Machtbasis, die „Bewegung zum Sozialismus“, hat ihre Ursprünge in den sechs Koka-Gewerkschaften des Chapare – und das ist, wie ganz Bolivien weiß, jenes Gebiet, in dem fast nur für den Drogenhandel produziert wird.

Die Blätter aus der tiefer gelegenen Region enthalten mehr Alkaloide, was sie bitterer macht. Darum taugt die Koka aus dem Chapare nicht zum Kauen und auch nicht als Tee. Und darum definierte „Ley 1008“ den Chapare als „Anbaugebiet im Übergang“. Doch seit Morales regiert, hat es keine konkreten Versuche mehr gegeben, den Kokaanbau dort wirklich zu beenden.

2009 warf Morales die zwielichtige US-Drogenbehörde DEA aus dem Land und übergab die Kontrolle der Haine den Koka-Gewerkschaften. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick positiv, denn seitdem die US-Amerikaner aus dem Land sind, stiegen die Sicherstellungen von Kokain um 234 Prozent. Gleichzeitig registrierte die UNO, dass die Anbauflächen zurückgingen – 31.000 Hektar im Jahr 2010 auf 25.300 2012. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Was die UNO-Ziffern nicht verraten: Inzwischen gibt es neue Pflanzen, die bis zu sechs Ernten jährlich erlauben. Eine Studie der EU ergab, dass Bolivien etwa 14.700 Hektar benötigt, um den legalen Inlandsmarkt zu versorgen. Also produzieren mehr als 10.000 Hektar für die Narcos, die das Gift teils fertig, teils halb fertig über Brasilien und Argentinien nach Europa schicken, die Abfallprodukte der Kokainküchen verheeren die Armutsviertel von São Paulo und Buenos Aires.

Don Zacarías, der noch nie aus Bolivien herausgekommen ist, macht sich keine übergroßen Vorstellungen, was mit den Blättern passiert, die der Aufkäufer die tausend Kurven hinauf zum Koka-Markt in La Paz fahren wird. Er kann froh sein, wenn ihm am Monatsende 1000 Euro bleiben.

Fakten

Bolivien ist traditionell Heimat der Kokapflanze.
Die Anbauflächen in dem Land gingen zwischen 2010 und 2012 zwar von 31.000 auf 25.300 Hektar zurück.
Jedoch sind die Pflanzen ertragreicher geworden. Sie können bis zu sechsmal im Jahr geerntet werden. Die Kokapflanze wird nicht nur für Tees oder medizinische Anwendungen im Inland verwendet, sondern mit ihr machen vor allem auch internationale Drogenkartelle ihre Geschäfte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

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