Migration: Wo das Meer nur noch Menschen hergibt

Ankunft auf Lampedusa
Ankunft auf Lampedusa(c) EPA (STR)
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Lampedusa, südlichster Vorposten Europas. Für viele Afrikaner, die in zerbrechlichen Booten übers Meer kommen, ist das Eiland das Tor zu Europa. Und für viele auch ein Grab.

Lampedusa, morgens um halb acht. Das Meer spiegelglatt. Keine Welle kräuselt die tiefblaue Fläche, während die Sonne glühend rot aufsteigt.

Schon hat es 30 Grad. Der alte Hafen erwacht. Fischerboote laufen ein, der meist magere Fang wird entladen. Daneben besteigen Ausflügler die Schiffe, die Touristen zu den Tauchparadiesen um das Eiland südlich von Sizilien bringen.

An der nahen Betonmole ist es ruhig. Der Eingang ist mit Draht versperrt, dahinter dümpeln Schiffe von Küstenwache und Carabinieri. Das Tor zum „gelobten Land“ Europa ist Sperrgebiet. Vom Plakat einer Menschenrechtsgruppe lugt ein schwarzes Kind. „Ein Lächeln für die Presse“, steht darunter.

Sonst weist nichts drauf hin, welche Szenen sich hier regelmäßig abspielen. Die Urlauber bleiben ungestört – wenn „sie“ nicht grad kommen. „Sie“, die Habenichtse aus Afrika, die ihr Leben riskieren, um das Paradies zu erreichen, dessen Vorposten Lampedusa ist. Geografisch gehört die kaum 20 Quadratkilometer große Insel zu Afrika. Wasser gibt es so wenig wie Bäume. Alles, was die 6000 Bewohner brauchen, kommt aus Sizilien. Man kann das libysche TV empfangen. Bis Libyen sind es 300 Kilometer, nach Tunesien 150.

„Jeden Tag kommen neue“

„Und jeden Tag kommen neue Clandestini“, seufzt Gianni, ein alter Fischer. „Heimliche“ nennen die Italiener „sie“. Gianni hat längst aufgehört mit der Fischerei, die Knochen machen's nicht mehr, und das Meer gibt kaum noch was her – außer Menschen aus Afrika. „Was wollen die bei uns? Wir sind keine Rassisten“, sagt er, „aber es sind zu viele. Und warum muss Italien für alles zahlen? Kleider, Essen, Medikamente?“ Kaum einer hier würde ihm widersprechen, denn die Clandestini bedrohen die Hauptgeldquelle – den Tourismus.

Dabei sucht man hier lange nach Afrikanern. Einer ist Padre Vincent. Er ist aus Tansania und Pfarrer im Ort. Jüngst sprach er über die Tragödien auf dem Meer. Damals wurde ein Denkmal eingeweiht: „La Porta“, das Tor. Es ist den unbekannten Immigranten gewidmet und soll an die Tausenden erinnern, die auf dem Weg sterben. Oft gehen Boote unter, an den Strand werden dann Leichen gespült. Magwala kam nicht per Schiff. Leute wie er sind begehrt – die Kirche braucht Nachwuchs.

Sobald Flüchtlinge da sind, bringt man sie ins Lager hinter dem Dorf, umgeben von Stacheldraht. Niemand darf ohne Genehmigung rein und niemand heraus. Das hat Bürgermeister Bernardino De Rubeis befohlen. Hinter dem Lagertor stehen Afrikaner, suchen Schatten unter einem Vordach. Erregte Stimmen schwirren durch die Luft. Ein Bus wartet. „Nummer 57“, ruft jemand auf Englisch. „Nummer 59, 87.“ Wer aufgerufen ist, rückt Europa näher, wird zum Flughafen gebracht. 90 Prozent der Immigranten aus Afrika kommen derzeit über Lampedusa nach Italien, von da werden sie in andere Lager verteilt. Einige werden abgeschoben, der Rest taucht unter. Viele wollen weiter, meistens nach Deutschland und Skandinavien.

„Meist bleiben sie fünf, sechs Tage da“, sagt der Polizist Giuseppe Bellassai in seinem klimatisierten Büro. Sie setzen in immer kleineren, kaum seetauglichen Booten über. Es sind immer mehr, das Lager ist überfüllt. 15.000 waren es heuer in den ersten acht Monaten, mehr als im ganzen Jahr zuvor.

In der Brühe aus Meer und Urin

Männer stehen in Gruppen herum, viele liegen im Schatten. 800 Plätze hat das Lager, heute sind 1200 Menschen hier, abends sind es 2000. Viele, sagt Krankenschwester Laura Rizzello, seien traumatisiert von den Strapazen einer Reise, von der die Überfahrt nur der letzte Teil ist. Weil sie tagelang in einer Brühe aus Meerwasser, Benzin und Urin ausharren, haben viele Hautausschläge. Meist kämen sie jetzt aus Somalia, Eritrea, Nigeria, dem Kongo.

Auf Frauen und Kinder lauern besondere Gefahren. „80 Prozent der Frauen sind Opfer sexueller Gewalt“, sagt Rizzello. „Sister Red Cross“ nennen sie die Flüchtlinge. „Ich wurde geschlagen, sie waren sehr böse zu mir“, flüstert Omo. Sieben Monate war die Nigerianerin unterwegs; ihre Familie war ermordet worden. Wochenlang schleppte sie sich durch die Sahara, wurde in Libyen eingesperrt. Wie es ihr gelang, auf ein Schiff zu kommen, sagt sie lieber nicht. Und nicht, was sie dafür zahlte. Um die 1500 Euro beträgt der Preis meist. Die jungen Frauen, Anfang 20, können kaum über das reden, was sie erlebten. Doch sie wollen nach Europa. Was sollen sie dort tun?

„Viele gehen in die Prostitution“, seufzt Bernardino De Rubeis in seinem Büro. Über dem Schreibtisch prangen Präsident und Papst. Der Bürgermeister, der von Menschenrechtlern attackiert wird, sagt, er sei kein Rassist. In einem Redeschwall kriegt man Ansichten zu hören, die man von einem Politiker der „Autonomiebewegung für Sizilien“ (MPA), die mit der rassistischen „Lega Nord“ packelt, nicht erwartet. Zwar verteidigt er die Abriegelung des Lagers als „zum Schutze beider Seiten“. An der Immigrationspolitik der Regierung aber lässt er kein gutes Haar: „Es ist keine Lösung, alles zu dramatisieren“, wirft er Innenminister Roberto Maroni (Lega Nord) vor und erinnert daran, dass auch die Italiener ein Volk von Emigranten sind.

Die Entscheidung, den Notstand zu verhängen, hält er für verfehlt, das schüre Hysterie. „Italien braucht eine vernünftige Immigrationspolitik mit Quoten.“ Dass sich alles bessern könnte, weil Italien sich jüngst mit Libyen wegen der Kolonialzeit aussöhnte, glaubt er nicht: „Nicht ein Flüchtling weniger wird kommen, nur weil Berlusconi Gadhafi Autobahnen baut.“

Treffen zweier Welten

Im Hafen wird es unruhig. Ein Küstenwachboot läuft ein. Vor den weißen Uniformen der Soldaten dunkle Gestalten. Ein zweites Boot folgt, sie legen an. Langsam, einander stützend, betreten „sie“ erstmals Europa. Es sind mehr als 300, aufgelesen 30 km südlich der Insel.

Ausflugsboote tuckern nah vorbei. Nach dem Tag im Meer kommen die Touristen zurück, gebräunt, froh. Fast könnten sie die Afrikaner berühren, machen Fotos. Nur im Hafen prallen Erste und Dritte Welt aufeinander. Busse vom Lager warten – nach einer Stunde sind die Neuen im Lager verstaut. Hinter der Mole versinkt die Sonne im spiegelglatten Meer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2008)

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