Geschichte: Der Tag, als die Erde unterging

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Das Beben, das vor 100 Jahren Messina und Reggio in Süditalien zerstörte, war die größte Naturkatastrophe der bekannten Geschichte Europas: mit mindestens 100.000 Toten. Und es könnte sich wiederholen.

"Hast du je so ein Blau gesehen? Und das im Dezember?" – Giovanni lacht. Der 23-jährige Architekturstudent („Vergiss den Nachnamen, hier duzen sich alle!“) steht am Strand von Reggio di Calabrias Flaniermeile, die als „schönster Kilometer Italiens“ besungen wird. Leise plätschern glitzernde Wellen durch die Meerenge, ein Kutter tuckert durchs tiefblaue Wasser, ein Riesenschiff gleitet mit unzähligen roten, gelben und grünen Containern vorbei.

Gegenüber sind die Berge Siziliens zum Greifen nah. Links raucht der Ätna vor sich hin, rechts am Horizont flimmern die weißen Häuser von Messina in der Sonne. „Aber noch besser wird's“, meint Giovanni, „wenn du im Sommer kommst. Dann siehst du Messina manchmal als Fata Morgana, da tänzeln die Häuser locker übers Wasser.“

In einem apokalyptischen Totentanz...

Das, was hier vor 100 Jahren, am 28. Dezember 1908, geschah, war keine Fata Morgana. Es war ein apokalyptischer Totentanz. Die Menschen Messinas und Reggios, so beschrieben es Überlebende wörtlich, fühlten sich in einen riesigen Strudel gerissen. Dann der Aufprall. Und seltsame Stille.

Dabei gingen sie froh zu Bett am Sonntag. Zum Weihnachtsausklang hatte Messinas Opernhaus „Aida“ aufgeführt; in Reggio bejubelten sie die Installation der ersten elektrischen Straßenlaternen, dieses „neue Licht“, den Schritt in die Zukunft. Doch Montag früh, 5 Uhr 21, bleiben die Uhren stehen: Die Erde bebt, wie sie es noch nie tat in der bekannten Geschichte Italiens. In dreißig Sekunden werden zwei Städte ausradiert, Reggio und Messina, dazu 602 Dörfer an der Küste und im Bergland Kalabriens. Zehn Sekunden später kommt ein Tsunami, bis zu 13 Meter hoch, er spült an der kalabrischen Küste alles weg: Straßen, Häfen, Brücken, Züge, Industriegebäude. Und in höhnischem Triumph setzt er eine Barke, nachdem er sie über die Häuser gewirbelt hat, auf einer Dorfstraße ab – einer ehemaligen.

Hundert Jahre später ist Zeit für die wissenschaftliche Aufarbeitung. Im klassizistischen Theater von Reggio (keiner sieht, dass es aus Stahlbeton ist, wie die ganze Stadt neu aufgebaut nach der Katastrophe) debattieren Geologen, Geophysiker, Katastrophenschützer, Historiker. Auf 7,1 oder 7,2 nach Richter taxieren sie das Beben; damit wäre es nur wenig schwächer als das große Beben in China vom Mai 2008 und stärker als die „Urkatastrophe“ der europäischen Neuzeit: die Vernichtung Lissabons 1755 durch Beben, Feuer und Flut. Seismologen rechnen die 1908 bei Messina freigesetzte Energie in menschliche Zerstörungseinheiten um: Sie kommen auf 43 Atombomben vom Hiroshima-Typ.

„Es war um mich wie ein unaufhörlicher Regen“, erzählte ein Augenzeuge. „Steine, Trümmer, Balken, Staub, alles kam herunter, den ganzen Tag bebte der Boden.“ – „Ich wollte schreien“, berichtete ein anderer, der in den Trümmern seines Hauses lag, „aber ich hatte Kehle und Lungen voll Staub.“ – „Auf einmal war ich mich mitsamt dem Bett drei Stockwerke tiefer, neben den Betten der Verwandten“, erzählte wieder ein anderer, „,Wie seid ihr zu mir heraufgekommen?‘, fragte ich sie, weil ich im Schlaf und meiner Verwirrung gar nicht bemerkt hatte, dass ich gefallen war. ,Aber wir haben uns doch gar nicht bewegt!‘“, antworteten sie.

... kamen die Helfer aus Italien zuletzt.

Wie viele starben? Bis heute weiß es niemand. 60.000 waren es mindestens in Messina, 12.000 in Reggio, die auf dem Land zählte niemand und die Zahlen in den Städten sind unsicher, weil die Melderegister zerstört wurden. 100.000 Tote gilt als plausibel, manche sagen sogar 200.000. Selbst der aktuelle Forschungsbericht (1280 Seiten) widerspricht sich mehrfach: Wann kamen die Helfer? Am selben Morgen oder 24 Stunden später? Fest steht: Die Italiener kamen zuletzt. Russische und englische Kriegsschiffe hatten im Mittelmeer Manöver abgehalten, sie eilten nach Messina; dort war auch ein deutscher Kreuzer. Das ärmliche Reggio aber musste noch einen weiteren Tag ausharren.

Genauso lang dauerte es, bis Rom die Lage erkannte. Um ein Telegramm zu senden musste ein italienisches Kriegsschiff fünfzig Kilometer die Küste hinauffahren; davor waren alle Leitungen kaputt. „Dabei lag im Hafen von Messina ein Kriegsschiff mit Funktelegraf“, sagt Katastrophenexperte Franco Barberi, „aber an die neue Technik dachte keiner.“ So erfuhr die Regierung erst nach mehr als zwölf Stunden von allem. Ministerpräsident Giovanni Giolitti hielt die Hilferufe als „typisch süditalienische Übertreibung“: „Da hat wohl einer die Zerstörung einiger Häuser mit dem Weltuntergang verwechselt.“

Die Geologen im Stadttheater diskutieren über die Vorgänge, die sich unter ihren Füßen in 13, 15, 20 Kilometern Tiefe abspielen. Dass dort die afrikanische Kontinentalplatte mit der europäischen kollidiert und teils unter ihr abtaucht, wissen sie. „Aber wie das abläuft, haben wir noch nicht verstanden.“

„Festland“ ist in Kalabrien relativ...

Sie werfen Bilder an die Leinwand, bunte Computertomografien vom Bauch der Erde, so detailreich, als seien sie dort gewesen. Per Laserpointer ziehen sie Gesteinsverwerfungen nach, die im Boden der Meerenge aussehen wie Messerschnitte und wirr übereinanderliegen wie Mikadostäbchen. Kalabrien und Sizilien driften auseinander, fünf Millimeter im Jahr, drehen sich gegeneinander, reiben aneinander. Der Begriff „Festland“ ist hier sehr relativ. Ob an der Meerenge von Messina, in der zum selben geologischen Komplex gehörenden Vulkanzone der Liparischen Inseln, um Ätna und Stromboli, ob in den Bergen Kalabriens – überall schlagen die Seismografen jeden Monat mehrmals an. Doch die entscheidende Bruchzone von 1908 kennt man noch immer nicht.

Sicher waren die kleineren Vorbeben von 1894, 1905 und 1907 schon arg genug. Für die Historikerin Emanuela Guidoboni sind sie eine Erklärung, wieso das Beben von 1908 so verheerend ausfiel: Die Bausubstanz war angeschlagen, die Kalabrier hatten nicht genug Zeit, die Schäden richtig auszubessern.

„Im neuen Staat Italien haben sich unsere Leute nicht mehr um die weisen Baudekrete der alten Bourbonenkönige gekümmert“, resümierte 1908 ein Forscher. „In den Dörfern waren die Dächer so schwer, dass die Wände sie kaum tragen konnten, elementare Bauregeln wurden nicht befolgt“, sekundierte der Priester und Vater einer Erdbebenskala, Giuseppe Mercalli. Das beschämendste Urteil kam damals aus Fernost: Der zu Studienzwecken herbeigeeilte Professor Fusakichi Omori aus Tokio verglich Italiens Baustandards mit denen Japans und befand: „998 von 1000 Opfern“ könnten noch leben, hätte man die nötige Vorsicht walten lassen. Was hat Italien daraus gelernt? „Wenig“, sagen die Forscher in Reggio. Die meisten öffentlichen Gebäude seien weiter nicht erdbebensicher, 40% der Schulen, mahnt der oberste Katastrophenschützer Guido Bertolaso, seien gefährdet.

Auch Giovanni, der Architekturstudent, schüttelt den Kopf. Mittlerweile ist er oben über der Stadt, auf der Aussichtsplattform „La Rotonda“. Ganze Schulklassen springen herum. „Schau mal“, sagt er, „mit dem ,Lungomare‘, der Flaniermeile am Meer, hat Reggio eine Pufferzone gegen Tsunamis. Aber südlich vom Zentrum, dort, wo die Welle am höchsten war, breitet sich ein wilder Bau-Verhau wieder zum Meer hin aus.“...

... doch feste Häuser baut man nicht.

Giovanni weist über die Berge. Überall Wohnblocks, „meist schwarz gebaut, ohne Kontrolle und wohl ohne Erdbebensicherheit“. Dabei seien die Hügel so gefährdet wie die Ebene. Die Bruchlinien im Fels, die könne jeder sehen. Fürchten Giovannis Landsleute nicht, dass alles wieder passieren und die Schäden größer sein könnten, weil in Messina und Reggio jetzt eine Viertelmillion mehr Menschen wohnen als 1908? Und weil die Fischerdörfer zu einem einzigen Wohn-, Gewerbe- und Verkehrsgebiet verwuchsen?

Einige Angler am Lungomare haben zuvor auf die Frage geantwortet: „Wie willst du leben, wenn du täglich Angst hast?“ Oder: „Die Fische überlebten jeden Tsunami.“ Giovanni schüttelt den Kopf: „Der Fatalismus ist nicht auszurotten. Er stammt aus einer vergangenen Zeit, in der man außer Altäre bauen und Prozessionen machen wenig tun konnte gegen Beben. Heute hättest du Erfahrung, Bautechniken, genau vermessenes Gelände. Aber es wird wohl so enden, dass wir beim nächsten Beben wieder nur die Toten zählen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2008)

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