Bolivien: Wo Behinderung als "Strafe Gottes" gilt

Wilter ist seit seiner Geburt halbseitig gelähmt. Für seinen Schulweg muss er täglich knapp acht Kilometer zu Fuß gehen..
Wilter ist seit seiner Geburt halbseitig gelähmt. Für seinen Schulweg muss er täglich knapp acht Kilometer zu Fuß gehen..(c) Carolina Strasnik
  • Drucken

Kinder mit Behinderung werden in Bolivien oft aus Scham versteckt und stark vernachlässigt. Vor allem in armen, sehr entlegenen Dörfern – in denen eigene Gesetze gelten. Eine Reportage.

Durch dichtes Gestrüpp und über einen verschlammten Weg geht es steil bergauf auf eine Anhöhe – hier weiden Kühe, ringsum wird Mais angebaut. Dahinter stehen Lehmhütten, in einer der Hütten wohnt Wilter Chávez Benegas gemeinsam mit seinen Großeltern. Über ihr schwirren Fliegen, die feuchte Luft des Regenwalds mischt sich mit trockenem Rauch aus einer Feuerstelle. Noch ist die Frische der Nacht zu spüren, doch schon bald wird die Hitze Überhand gewinnen.

Wilter beim Frühstück mit seiner Schwester, die ihn jeden Tag abholt und in die Schule bringt.
Wilter beim Frühstück mit seiner Schwester, die ihn jeden Tag abholt und in die Schule bringt.(c) Carolina Strasnik

Wilter frühstückt vor der offenen Küche, um sich für den Schultag zu stärken. Rund 45 Minuten braucht der 16-Jährige jeden Tag zur Schule – zu Fuß. In der Regenzeit ist der Weg oft gar nicht passierbar, dann wird der rote Sand zu einem gefährlichen, rutschigen Schlammboden ohne Halt. Am Abend geht es wieder 45 Minuten zurück. Was in diesem Teil Boliviens für die Schulkinder Alltag ist, ist für Wilter jeden Tag eine große Herausforderung: Er ist seit seiner Geburt halbseitig gelähmt und geistig behindert, er kann nicht sprechen. Doch Schritt für Schritt legt er trotz des gelähmten Beins täglich knapp acht Kilometer zurück.

Wilter lebt wie nahezu jeder sechste Mensch in Bolivien mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung. Besonders betroffen ist die indigene Bevölkerung des Landes. Der 16-Jährige ist ein Guaraní, das ist eine indianische Ethnie, die erst seit Ende der 1980er-Jahre vom Staat Bolivien als indigene Autonomie anerkannt wurde. In der Verfassung ist dies verankert. Die Guaraní leben sehr ursprünglich, kochen über offenem Feuer, leben in familiären Dorfverbänden in Lehmhütten in einem sehr entlegenen Gebiet Boliviens.

In diesen Lehmhütten lebt der 16-jährige Wilter mit seinen Großeltern.
In diesen Lehmhütten lebt der 16-jährige Wilter mit seinen Großeltern.(c) Carolina Strasnik

Gesetze werden vom Rat der Ältesten bestimmt, Schamanen behandeln die Dorfbewohner mit natürlichen Heilmitteln, auf Bräuche wird sehr viel Wert gelegt. „Traditionell wird hier eine Behinderung als Verwünschung oder als religiöse Strafe wahrgenommen. Das führt dazu, dass sich die Familien schämen und die Kinder zu Hause verstecken“, erklärt Eva Nittmann, Programmkoordinatorin für Bolivien der Hilfsorganisation Licht für die Welt (LfdW). Viele Kinder seien komplett verwahrlost. „Es mangelt an Hygiene, Pflege, Liebe und Zuneigung.“

Zähneputzen bevor es in die Schule geht.
Zähneputzen bevor es in die Schule geht.(c) Carolina Strasnik

Seit 20 Jahren arbeitet die NGO mit Partnerorganisationen an der Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen in Bolivien. Eine davon ist die NGO Escuela Taller de Integracion (E.T.I.) mit Sitz in der Hauptstadt Sucre. „Seit 2006 sind wir Partner von LfdW. Unser Zentrum in Sucre besteht aus einem Büro, einer Babykrippe, einem Kindergarten, einer Schule, einer Schneiderei, Werkstätten und einer Bäckerei – das sind alles inklusive Einrichtungen für Menschen mit und ohne Behinderung“, erklärt Ina Urquidi, die Gründerin und Geschäftsführerin von E.T.I. 2010 startete E.T.I. gemeinsam mit Licht für die Welt ein Pilotprojekt zur gemeindenahen Rehabilitation nach den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Keine offiziellen Daten

(c) Die Presse Grafik, GK

Für das Projekt wurde die Provinz Hernando Siles ausgesucht, wo auch der 16-jährige Wilter lebt. Hier gibt es besonders viele Menschen mit Behinderung. „Bei der Arbeit in Sucre haben wir gemerkt, dass etwa 65 Prozent der Menschen, die hierherkommen und eine Behinderung haben, aus dieser Region stammen“, sagt Projektleiter Roberto Williamsund Ehemann von Urquidi. „Wir dachten uns: Irgendetwas stimmt da nicht. Das müssen wir uns genauer ansehen.“ Doch um Menschen wie Wilter ausfindig zu machen, musste E.T.I. zunächst ein Forschungsprojekt starten. Es gab keinerlei offizielle Daten. Für eine erste Zählung benötigte die Hilfsorganisation insgesamt zweieinhalb Jahre. Etwa auch deshalb, weil sie sich für die Einreise in das Gebiet der Guaraní zuerst die Zustimmung des Rat der Ältesten einholen mussten.

Die Provinz Hernando Siles erstreckt sich über 5473 Quadratkilometer. „Wir mussten von Haus zu Haus fahren, reiten oder wandern und überall nachsehen, denn sonst hätten wir die versteckten Kinder nicht entdeckt“, schildert Williams nachdenklich. Das Ergebnis der Zählung: Von 34.000 Menschen haben über 1200 eine Behinderung – 3,5 Prozent der befragten Bevölkerung.

Eine typische Küche in einer Guaraní-Hütte aus.
Eine typische Küche in einer Guaraní-Hütte aus.(c) Carolina Strasnik

Die Gründe sind vielfältig, allen voran die große Armut in Bolivien, dem zweitärmsten Land Südamerikas. Doch Bolivien ist reich an Bodenschätzen, etwa Erdgas. „Es wird in dieser Region viel Geld gemacht, davon bleibt den Menschen hier aber nichts,“ meint Williams. „Vor 50 Jahren hat es hier einen schweren Unfall an einer Erdgaspumpstation gegeben, die ganze Region wurde verseucht. In der ersten Generation hat man noch nichts bemerkt, aber die Mehrheit der Menschen der zweiten und dritten Generation wurde mit einer Behinderung geboren. In der vierten zeigt sich jetzt erstmals eine Besserung.“

Indigene Autonomie

Eine spezielle Situation ergibt sich im Gebiet der Guaraní, das mit der Region San Jorge de Ipaty das Gebiet des Pilotprojekts von E.T.I fällt. Offiziell wurde 1952 in Bolivien die Sklaverei abgeschafft. Doch bis sich die Reform durchsetzte, dauerte es Jahrzehnte. „Wenn wir mit den Guaraní arbeiten, tun wir das mit Menschen, deren Eltern noch Sklaven waren und die selbst die Sklaverei miterlebt haben“, erzählt Williams. Die Guaraní wurden in einem Feudalsystem lebenslang unter Schuldknechtschaft gehalten. Großgrundbesitzer haben das Land gemeinsam mit den Menschen verkauft. Das Problem der Schuldknechtschaft besteht in Bolivien nach wie vor.

Blick ins Hinterland.
Blick ins Hinterland.(c) Carolina Strasnik

Das Land der Guaraní wurde Ende der 1980er-Jahre mithilfe einer spanischen NGO gekauft und so an die indigene Bevölkerung zurückgegeben. „Die Skepsis gegenüber Außenstehenden ist deshalb sehr groß. Wir mussten viel Arbeit und Feingefühl in die Vorarbeit stecken, um ihr Vertrauen zu gewinnen“, sagt Williams. Diese abwehrende Einstellung führte allerdings auch dazu, dass die Guaraní nur untereinander heiraten, während ihre Anzahl sinkt. Dadurch gibt es hier einen weiteren Grund für die hohe Zahl an Behinderungen in dieser Region – Inzucht.

Auch Wilter wurde bei der damaligen Zählung von E.T.I. im Haus seiner Großeltern im Alter von 13 Jahren vollkommen verwahrlost vorgefunden. Sein Großvater erzählt, wie sich ihr Leben durch diesen Besuch verändert hat: „Wir haben früher alle Coca gekaut. Wenn man Drogen nimmt, kann man sich kaum um sich selbst, geschweige denn um ein behindertes Kind kümmern“, erinnert er sich nachdenklich an die düstere Zeit. Wilter kam in der Lehmhütte zur Welt, in der er noch heute lebt. Bei seiner Geburt gab es Komplikationen, er kam schon mit der Behinderung auf die Welt. Seine Mutter zog, als sie wieder schwanger wurde, mit ihrem Mann in das Dorf, in dem Wilter heute zur Schule geht. Da war Wilter erst eineinhalb Jahre alt. Sie bekam drei weitere Kinder, die nicht wissen, dass der behinderte Bub ihr Bruder ist.

Wilters Großvater beim Ton brennen.
Wilters Großvater beim Ton brennen.(c) Carolina Strasnik

Nur eine Schwester holt ihn täglich von zu Hause ab, sie gehen gemeinsam zur Schule, dann bringt sie ihn wieder heim. „Die anderen Kinder würden ihn sonst mobben,“ meint Wilters Großvater. Er verdient sich mit Töpfern etwas zum Anbau von Mais dazu, seine Frau formt die Töpfe und er brennt sie. „Wilter hilft beim Feuerholz sammeln und passt auf, dass die frischen Töpfe vor dem Brennen nicht von Tieren oder sonstigem zerstört werden,“ erzählt er während er einen der glühend heißen Töpfe aus dem Feuer holt.

Ein langer Prozess

Laura Corcuy, selbst Guaraní und die Rehabilitationshelferin für dieses Gebiet, wurde für das Projekt vom Rat der Ältesten bestimmt. Sie versucht, das Bewusstsein über Behinderungen in den Familien zu verändern. „Denn, abgesehen von dem Aberglauben über Kinder mit Behinderungen, wissen Eltern in den meisten Fällen nicht, was sie brauchen oder welche Fähigkeiten in ihnen stecken“, so LfdW-Programmkoordinatorin für Bolivien Eva Nittmann. „Die größte Herausforderung ist und bleibt, dass die Familie ihre Einstellung zu dem Kind verändert. Das ist ein sehr langer Prozess.“

Die Rehabilitationshelferin Laura Corcuy mit Wilters Großvater. Dahinter sieht man einen traditionellen Backofen.
Die Rehabilitationshelferin Laura Corcuy mit Wilters Großvater. Dahinter sieht man einen traditionellen Backofen.(c) Carolina Strasnik

In der inklusiven Schule, die Wilter seit zwei Jahren besucht und die E.T.I gemeinsam mit LfdW in San Jorge de Ipaty eröffnet hat, zeigt er sehr gute Erfolge. „Am liebsten malt er – wirklich gut“, sagt Wilters Großvater stolz. Ob er einen bestimmten Berufswunsch hat, vielleicht könne er einmal ein Maler werden? Auf diese Frage verstummt der Großvater. In Hernando Siles werden keine großen Lebenspläne geschmiedet. Man lebt von Tag zu Tag – von Schritt zu Schritt.

Hintergrund

80 Prozent aller Menschen mit Behinderungen weltweit leben in Entwicklungsländern. Kaum Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung oder Arbeit führen oft zu einer lebenslangen Beeinträchtigung. 2015 ist das Europäische Jahr für Entwicklung.

Licht für die Welt unterstützt seit 1994 Projekte in Bolivien – derzeit sind es 16 Projekte mit Fokus auf Rehabilitation, inklusive Bildung, Augengesundheit und Blindheitsverhütung sowie die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung. Das Pilotprojekt zur gemeindenahen Rehabilitation umfasst alle fünf Aspekte der WHO: Gesundheit, Bildung, Lebensunterhalt, Soziales, Empowerment.

Die Guaraní wurden bis Ende der 1980er- Jahre in Bolivien in einem Feudalsystem unter Schuldknechtschaft gehalten. Großgrundbesitzer haben das Land für gewöhnlich gemeinsam mit den Menschen, die sie ausgebeutet haben, verkauft. Das Problem der Schuldknechtschaft besteht in Bolivien nach wie vor.

Spenden an:
IBAN AT92 2011 1000 0256 6001
BIC GIBAATWW

Nach etwa 45 Minuten Fußmarsch ist Wilter in der inklusiven Schule in San Jorge de Ipaty angekommen.
Nach etwa 45 Minuten Fußmarsch ist Wilter in der inklusiven Schule in San Jorge de Ipaty angekommen.(c) Carolina Strasnik

Compliance-Hinweis:
Die Reise fand auf Einladung von Licht in die Welt statt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.