Rio de Janeiro: Im Wellblechgarten der Lüste

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Rap und Funk hämmern aus Rotlichthöhlen, die Luft ist zum Schneiden, Hühner brutzeln, Frauen kämmen ihre Haare und zeigen, was sie haben. Ein intimer Gang durch die „Vila Mimosa“ – das wahre Rotlichtviertel von Rio de Janeiro.

Durch die Bahnunterführung an den Mülltonnen, Garagen, dem Schlachthof und den toten Fenstern vorbei übers Kopfsteinpflaster der Rua Ceará um die Kurve – und du bist in einem Film von Federico Fellini. Aus dem Nebel der Holzkohlegrills und Bierkaschemmen schälen sich Frauenleiber, fette, feiste, dürre. Sie kauern wie Katzen vor den Verschlägen, gießen ihre Schokoladenformen über die Brüstung, wiegen ihre Becken vor dem Männerstrom her, der durch die Buden und Verschläge quillt wie über einen Weihnachtsmarkt mit seinen Sternen, seinem Glimmer, seinem süßen Parfum.

Rap und Funk hämmern aus den Rotlichthöhlen. Viel wird gezeigt, wenig geredet. Eine schnelle Nummer, 20 Minuten für kaum 20 Euro. Die enge Treppe, die schmale Tür weisen den Weg. Und auf der Gasse geht das karnevaleske Treiben derweil weiter. Zu jeder Stunde. An jedem Tag.

Die „Vila Mimosa“, das wahre Rotlichtviertel Rios, ist nicht totzukriegen, obgleich die Bordelle in hundert Jahren dreimal umziehen mussten. In der „Mangue“, den Mangrovensümpfen am Hafen, wo die Flüchtlinge aus Europa und herrenlosen Sklaven hausten, standen die ersten Freudenhäuser. Dann zog man an die Praça Onze, ins Judenviertel. Eine Russenmafia sorgte für Nachschub an hellhäutigen „Polacas“, die besonders begehrt waren.


Zweig im Glück. Stefan Zweig, der von den Nazis vertriebene Wiener Autor, wandert 1936 verklärt durch die Gassen und ist hingerissen: „Ein Anblick, wie ich ihn kaum ähnlich im Leben gesehen. Fenster an Fenster oder vielmehr Tür an Tür stehen und warten hier wie exotische Tiere hinter den Gitterstäben tausend oder sogar fünfzehnhundert Frauen aller Rassen und Farben ...“

Diktator Getúlio Vargas (1930–1945 und 1950–1954), Brasiliens Perón, schlägt durch die Altstadt eine achtspurige baumlose Avenida, die nun seinen Namen trägt. Dort, wo zwei Dutzend Synagogen und hunderte Spelunken waren, parken heute Autos und errichtet bisweilen ein Zirkus sein Zelt. Die Praça Onze, einst Treff der Boheme, ist nur noch ein Autobahnkreuz. Die Prostitution suchte einen neuen Platz: zwischen der Ruine des Leopoldina-Bahnhofs, den Gleisen der Vorortebahn und dem alten Schlachthof, nahe beim Fußballstadion Maracanã. Kaum ein Tourist verirrt sich dorthin, aber jedem Taxler leuchten die Augen, wenn ein Fahrgast nach der Vila Mimosa fragt.

Der Bauch Rios, die Schmuddelecke. In guter Gesellschaft flüstert man den Namen der Vila nur. Über die „Piranhas“, die leichten Mädels von der Copacabana, schreiben alle. Von der Vila liest man fast nichts, nicht mal von der Polizei. Vielleicht, weil die mit drinsteckt: Viele Bar- und Bordellbesitzer hier sind Polizisten außer Dienst. Das hat Tradition: Alle Versuche, schon unter dem Kaiser im 19. Jh., die Prostitution zu verbieten, scheiterten. Und endeten damit, dass die Gendarmen als Bordellchefs selbst für Ordnung sorgten.

Was „essen“ noch bedeuten kann. Triebabfuhr ist in Brasilien so legitim wie essen und trinken. Im lokalen Portugiesisch sind „essen“ und „bumsen“ dasselbe Wort: „comer“. Prostitution war hier stets ein gutes Geschäft, was damit zusammenhängen mag, dass Sklaven weder Frau noch Familie haben durften, ihre Herren sich aber so viele Konkubinen leisteten, wie es ging. Mögen heute die feinen Leute ihre Geschäfte diskret betreiben, in die Vila strömt das Machovolk. Ein billiges Vergnügen.

„Dreitausend Männer pro Abend, am Wochenende mehr“, schätzt Graziela, Chefin der „Vereinigung der Bewohner und Freunde der Vila Mimosa“, einer Kooperative der gut 150 Bars und Puffs, in denen bis zu 1500 Damen werken. Die Mittfünfzigerin fing selbst mit 18 an, machte später ihren eigenen Laden auf wie manche Kollegin auch. Im Büro der Kooperative, Rua Sotero dos Reis 23, herrscht viel Kommen und Gehen. Graziela, Suzana und drei weitere Frauen vom Vorstand haben alle Hände zu tun.


Nicht jeder darf sein Puff aufmachen. Sie schlichten zwischen Huren und Wirten, organisieren Kurse über Hygiene und Verhütung, schicken Frauen zum Arzt, halten Kontakt zu Behörden. Und jedes Jahr gibt's die Wahl zur „Miss Mimosa“.

„Nicht jeder darf einfach sein Puff aufmachen oder Bier ausschenken“, sagt Graziela, da müsse die „Associação“ gefragt werden. Jüngst habe ein Gringo geglaubt, er könne einen Edelschuppen hochziehen: „Nicht mit uns!“ Die Kooperative, die keine Satzung hat, aber eine Meinung, war dagegen. Touristen und TV-Teams will man nicht, das stört die Kunden. Die Vila soll bleiben, was sie ist: der Hort des kleinen Mannes. Flaschenbier kostet grad mal fünf Real (zwei Euro), ein „Programm“ zehnmal mehr. Die Puff- und Barchefs helfen einander, aber im Prinzip können alle tun, was sie wollen. Etwa die Jukebox voll aufdrehen.

Trotz der ohrenbetäubenden Kakofonie geht's gelassen zu. Ob Postbote oder Hafenarbeiter, schwarz oder blass, jung oder alt: Alle flanieren an den offenen Puppenstuben vorbei, in denen Frauen Nägel lackieren, Haare kämmen, Brüste zeigen, Grimassen schneiden, die Zunge rausstrecken oder müde den Kopf auf die Theke legen. Dazwischen fliegende Händler, die Lippenstifte, Lutscher und Reizwäsche anbieten. Die Luft ist zum Schneiden, besonders in den dunklen Seitengängen. Über den Köpfen ein Wellblechhimmel und ein wirres Gestrüpp aus Kabeln, darunter die grell gefärbelte Favela: waghalsige Ziegelbauten mit stickigen Kammern und Korridoren.

Die Rua Sotero dos Reis ist die Aorta. Zwei Dutzend Hühnergrills beidseits, alle fünf Meter ein Ausschank zwischen Bierkistenwänden und Kühlschränken. Die Preise sind zivil, die Show ist umsonst, keiner wird belästigt. Eine Stimmung wie beim Faschingsumzug. Nur geht man hier ohne Familie hin.


50 Euro pro Tag. Ab und an rollt ein Taxi durch die Menge, braune Gazellen steigen aus. Sie lassen sich gern auf Bier einladen. Priscilla, Cleide und Diana (Künstlernamen) kommen, wie die meisten Damen hier, aus der Vorstadt, den Favelas, kaputten Familien und prekären Verhältnissen, wie ihre Kunden meist auch. „Freiwillig arbeitet keine hier, aber die Hölle ist's nicht“, sagen sie.

Fast alle Ladys hätten am offiziellen Arbeitsmarkt keine Chance. In der Vila ist jede eine „Ich-AG“. Entsprechend hoch ihr Selbstbewusstsein: Zuhälter haben null Chance. Kinder haben fast alle, für sie sorgen Nachbarn und Verwandte, die Väter sind flüchtig. Viele pendeln zwischen dem teuren Gringo-Strich an der Copacabana und der Vila. Fünf Freier pro Schicht ist ein guter Schnitt. Damit kommen sie auf 50 Euro pro Tag – die andere Hälfte geht ans Haus. Pro Fünftagewoche kommen sie auf den nationalen Mindestlohn und verdienen mehr als Hilfskräfte im Handel.

Die Wirte zahlen keine Grundsteuer. Die Vila ist Sanierungsgebiet, aber die Stadt hat kein Geld, sie abzureißen. Wasser, Straßenreinigung und Sicherheit organisiert die Kooperative, den Strom muss jede Bude selber zahlen. Ein solcher „Balcão“ soll für 25.000 Euro zu haben sein. Kommt nur die Einrichtung hinzu: einige Pappwände, Klomuscheln, Matratzen, Wäsche, Betten, Blechtische, Stühle und Eisschränke.

Präservative. Seife. An die Arbeit. „Wie ist's, kommst mit?“, fragt Priscilla nach viel Hin und Her. Sie steigt die Treppe hoch, unten sind der Puffmutter 50 Real zu zahlen. Die übergibt Handtuch, Seife, Präservative, etwas Klopapier. Priscilla öffnet die Tür zum Verschlag, legt ihr Handy eingeschaltet auf den Nachttisch. Und macht sich an die Arbeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2009)

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