Die Angst vor feuchten Kellern

UKRAINE CRISIS
UKRAINE CRISISAPA/EPA/ANASTASIA VLASOVA
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Der Krieg in der Ostukraine hat viele Menschen in den Frontgebieten traumatisiert. In der Stadt Slawjansk sind Krisenpsychologinnen seit einem Jahr im Dauereinsatz.

In der Siedlung Semjonowka am Rand der ostukrainischen Stadt Slawjansk haben die Kämpfe zwischen prorussischen Milizen und der ukrainischen Armee tiefe Spuren hinterlassen. Baulücken, wo einst Häuser waren, Mauern, verunstaltet durch Mörsergeschosse, abgetragene Dächer, vernagelte Fenster. Doch es gibt auch unsichtbare Spuren des Krieges. Um diese drehen sich die Gespräche der 13-Jährigen, die sich einmal in der Woche in der Schule mit Tanja Aslanjan treffen. „Was hast du gesehen?“, fragt Aslanjan die Jugendlichen dann, wenn das Gespräch fortgeschritten ist. „Wie hast du dich gefühlt?“

Die Jugendlichen, die sich in einem freundlich ausgemalten Raum im Sesselkreis versammeln, haben erlebt, wie der Krieg nach Semjonowka kam. Und mehrere Wochen bei ihnen blieb. Sie haben Beschuss durch Granaten und Raketen erlebt. „Ich habe mir die Ohren zugehalten“, sagt ein Bub. „Es war so laut.“ Ein Mädchen erzählt Aslanjan, dass Bomben flogen und es nicht wusste, wohin es flüchten sollte. Die Kinder hier kennen den Geruch verendeter Tiere und verkohlter Körperteile. Sie haben Angehörige verloren. Heckenschützen aus allernächster Nähe gesehen. Ihre Siedlung Semjonowka muss einmal schön gewesen sein: im Grünen am Rand der Stadt gelegen, Eigenheime, große Obstgärten. Doch für die Kinder wurde das umkämpfte Semjonwoka zum Gefängnis – bis die Separatisten Slawjansk Hals über Kopf verließen und die Stadt am 5. Juli schließlich in die Hände der Armee fiel.

Tanja Aslanjan, eine Psychologin aus Slawjansk, leitet die Gruppe. Sie ist eine junge Frau im fliederfarbenen Mantel, ihr braunes Haar trägt sie kinnlang, im Gesicht ein gewinnendes Lächeln und an den Füßen Schuhe mit hohen, festen Absätzen. Aslanjan fährt jede Woche mit dem städtischen Bus nach Semjonowka, die Straßen der Stadt sind nicht sehr eben. Sie unterrichtete bis zum Beginn des Konflikts in der Ostukraine Angewandte Psychologie an der Pädagogischen Universität in Slawjansk. Slawjansk kannte damals außerhalb der Ukraine kaum jemand. Auch heute wissen wenige, dass die knapp 120.000 Einwohner zählende Stadt eine Hochschule beherbergt, ein Umstand, der Aslanjan wurmt.

Seit April 2014 geisterte Slawjansk dann durch die internationalen Medien, da sich prorussische Kämpfer wochenlang im Zentrum verbarrikadiert hielten. Nach den verbissenen Kämpfen und der Einnahme der Stadt durch die Armee nahm das mediale Interesse wieder ab, allmählich verschwanden die in den Hotels der Stadt einquartierten Berichterstatter, zogen weiter zu neuen Brennpunkten.

Dinge „ruhen“ lassen? Das war der Zeitpunkt, als für Tanja Aslanjan die Arbeit begann. Viele Bewohner von Slawjansk und den umliegenden Orten hatten Bedarf an psychologischer Betreuung. „Wir versuchen, mit ihnen gemeinsam Wege zu finden, mit der Kriegserfahrung umzugehen und Ressourcen zu finden, um in dieser Situation weiterzuleben.“ Viele reagierten am Anfang ablehnend, erzählt Aslanjan: „Die Menschen sind anfangs oft nicht bereit, über den Schrecken zu reden.“ Auch Eltern glaubten, dass ihre Kinder traumatisierende Erlebnisse längst vergessen hätten – und es besser sei, die Dinge „ruhen“ zu lassen. „Aber so geht das nicht“, sagt Aslanjan. „Die Psyche merkt sich, was passiert ist.“

Die Psychologin gründete mit anderen ein Krisenpsychologisches Zentrum. Das Team bezog ein Zimmer im Erdgeschoß der Stadtverwaltung. Ein paar Stühle, ein Schreibtisch, Fachbücher, Malfarben und Papier – das war alles, was man hatte. Mittlerweile ist die Einrichtung, die sich nun unter dem Dach der Nichtregierungsorganisation Promir befindet, ein Gebäude weitergezogen, in die Städtische Bibliothek. „Nicht eintreten“, steht auf der Holztür geschrieben. „Psychologe“. Die Warnung gilt unangemeldeten Besuchern, denn hier finden vertrauliche Konsultationen statt. Die Einfachheit der Einrichtung ist geblieben, die Mitarbeiterinnen arbeiten, so sagt Aslanjan, größtenteils ohne Bezahlung. In Slawjansk ist der Krieg vorbei, doch die Beschäftigung mit dem Kriegstrauma hat gerade erst begonnen. „Uns geht die Arbeit nicht aus, glauben Sie mir“, sagt die Psychologin. In der Stadt sind mittlerweile 30.000 Binnenflüchtlinge registriert, die aus umkämpften Ortschaften wie Debaltsewo und Gorlowka in Slawjansk Schutz suchen. Auch sie brauchen dringend psychologische Hilfe.

Besonders intensiv arbeitet das Team mit Kindern. „Wir sind oft die Einzigen, mit denen sie offen reden können“, sagt die Psychologin. In den Gruppen verarbeiten die Kinder ihre Erfahrungen kreativ. Auf einem Bild prangt ein großer schwarzer Fleck neben der Sonne. Jugendliche schauten auffällig oft Horrorfilme, „denn da ist das Fürchten offiziell erlaubt“, sagt Aslanjan. Und sie erinnert sich an ein Mädchen, das minutenlang nicht aufhören konnte zu lachen, als die Psychologin erzählte, dass viele Menschen sich in Todesangst einnässen. „Das war kein unbeschwertes Lachen“, sagt Aslanjan. „Das war eine Stressreaktion.“


Angst vor Uniformen. Wenn man die Psychologinnen fragt, wie sich das Kriegstrauma bemerkbar macht, dann können sie eine lange List an Symptomen anführen. Menschen erschrecken bei Geräuschen, die sie an den Beschuss erinnern – das können Türen sein, die ins Schloss fallen, Luftballons, die zerplatzen, Feuerwerke. Uniformierte – „nicht nur in Armeeuniform, auch in Arbeitsuniformen“, so Asanjan – können retraumatisierend wirken. Es gibt Mütter und Kinder, die die existenzielle Bedrohung derart zusammengeschweißt hat, dass sie einander nicht mehr loslassen können. Ein Geruch, wie der eines feuchten Kellers, kann in Sekundenschnelle den Horror des Erlebten wiederkehren lassen.

Bei der Therapie geht es darum, diese Ängste bewusst zu machen. Ein Trauma ist wie eine in Stücke gerissene Geschichte: Verstreute Fragmente des Erlebten im Gehirn können Betroffene plötzlich überwältigen. Im therapeutischen Gespräch werden die Fragmente vom Boden der Erinnerung gehoben und zusammengesetzt: „Allmählich begreifen die Menschen dann, was sie erlebt haben“, sagt Tanja Aslanjan.

Trauma-Behandlung

Das Krisenpsychologische Zentrum in Slawjansk hält Gesprächsgruppen für Kinder und Erwachsene ab und führt individuelle Beratungen durch. Unterstützt wird das Projekt u.a. vom Hilfsfonds Rinat Achmetows, einem Donezker Oligarchen.

In der Ostukraine sind durch den bewaffneten Konflikt 1,2 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen geworden. Die größte Last tragen die Regionen in der Nähe des Kriegsgebiets.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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