Berg-Karabach: Im "Schwarzen Garten" gibt es keinen Frieden

Berg-Karabach
Berg-Karabach(c) Streihammer
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Im Schatten der großen Weltkrisen spitzt sich der Konflikt um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan zu. Ein Besuch in einem "Staat", den bis heute niemand anerkannt hat.

Die 56-jährige Rima mag Silvester nicht. „Wenn die Feuerwerkskörper knallen, bekomme ich Angst“, sagt die Verkäuferin. Denn mit den Silvesterraketen am Nachthimmel tauchen vor ihrem geistigen Auge die Bilder vom Krieg auf, von den „Brüdern und Söhnen“, „die ich mit meinen eigenen Händen begraben musste“. Diese klein gewachsene Frau mit den rot gefärbten Haaren blickt recht verloren aus ihrem Stand, in dem sie Brot verkauft. Ein paar Meter weiter rechts sind Ruinen, in denen sich der Müll stapelt. Und links steht eine Moschee. Doch durch das Gotteshaus hallen schon lang keine Gebete mehr.

Rima steht in der De-facto-Republik Berg-Karabach, genauer, im Ort Schuschi und dort in dem alten muslimischen Viertel. Wo es keine Muslime mehr gibt – seit dem Krieg, der bis 1994 in der pittoresken Landschaft im Südkaukasus gewütet hat.

1991 hatten die christlichen Armenier Berg-Karabachs die Unabhängigkeit dieser zu mehr als drei Vierteln von Armeniern bewohnten „Insel“ inmitten des muslimischen Aserbaidschan ausgerufen. Es kam zu Gefechten. Am Ende des Kriegs mit zigtausenden Toten hatten die Armenier nicht nur Berg-Karabach de facto vollständig aus Aserbaidschan herausgerissen, sondern auch sieben weitere Provinzen besetzt und so Pufferzonen geschaffen – und, noch wichtiger, einen Landkorridor zu Armenien. Bis zu 20 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebiets halten armenische Streitkräfte bis heute.

Noch 1989 waren in Berg-Karabach 21,5 Prozent der Bevölkerung Aserbaidschaner. Heute sind sie alle weg. Die Muslime sind geflohen oder vertrieben worden. Auch wenn Berg-Karabach völkerrechtlich noch immer zu Aserbaidschan gehört, wie die Vereinten Nationen regelmäßig betonen.

Der Konflikt um diese wilde Bergregion im Südkaukasus – die mit 4440 Quadratkilometern etwas größer als das Burgenland ist, aber nur halb so viele Bewohner, nämlich 145.000, zählt – ist nun nicht zu Ende, er ist nicht einmal „eingefroren“, wie das gern geschrieben wird, eher köchelt er im Schatten der großen Weltkrisen vor sich hin. Aserbaidschans autokratischer Präsident, Ilham Alijew, drohte etwa im Vorjahr: „Wir werden unsere territoriale Integrität wiederherstellen, entweder durch friedliche oder durch militärische Mittel.“ Beide Länder rüsten auf, wobei Aserbaidschans Verteidigungsetat den gesamten Staatshaushalt Armeniens notorisch übersteigt. Immer öfter fallen Schüsse im „Schwarzen Garten“, wie Karabach übersetzt heißt. 2014 war mit Dutzenden getöteten Soldaten auf beiden Seiten das blutigste Jahr seit Kriegsende. Auch heuer gab es wieder Zwischenfälle an der Demarkationslinie.

Und die Verhandlungen in der „Minsk-Gruppe“ unter Schirmherrschaft von Frankreich, Russland und der USA stocken – auch weil sich Aserbaidschan weigert, Berg-Karabach als Verhandlungsteilnehmer anzuerkennen. Es rechnet hier nun zwar kaum jemand mit einem gezielten Angriffskrieg Aserbaidschans. Eher fürchtet man das Szenario eines Zwischenfalls, der eine unkontrollierbare Eskalationsspirale in Gang setzen könnte.


Über verschneite Pässe. Die mehr als sechsstündige Fahrt von Armeniens Hauptstadt Jerewan nach Berg-Karabach belegt, dass es hier zwar einen brüchigen Waffenstillstand, aber noch keinen Frieden gibt: Nahe der Grenze zu der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan (siehe Karte unten) ist ein Gerölldamm neben der Straße aufgeschüttet. Er soll vor Kugeln schützen, falls jemand jenseits der Grenze auf falsche Gedanken kommt.

Die Straße nach Berg-Karabach führt dann hinauf auf verschneite Pässe, vorbei an zerklüfteten Felsformationen. Schaf- und Kuhherden sind zu umkurven und noch öfter Schlaglöcher. Schwer vorstellbar, dass diese Rumpelpiste die einzige Verbindung Berg-Karabachs zur Außenwelt sein soll. Es gibt in der De-facto-Republik zwar einen nagelneuen Flughafen, einen futuristischen Glasbau mit übermächtigen Vogelschwingen. Flugbewegungen wurden hier aber noch keine verzeichnet. Denn Aserbaidschan hat gedroht, jeden Flieger vom Himmel zu holen, der dort aufsteigt oder landet.

Also der Landkorridor. Ein kleiner Grenzposten taucht auf, das österreichische Vertragshandy hat keinen Empfang, die Straße aber auch keine Schlaglöcher mehr – ein wichtiges Detail: Denn Mitglieder der armenischen Diaspora pumpen viel Geld nach Berg-Karabach, auch in die Infrastruktur. Ohne Armenien und Armenier wäre hier kein „Staat“ zu machen. Die Spender treibt ihr Patriotismus für das Nationalprojekt namens Arzach, wie Armenier Berg-Karabach in Anspielung auf eine gleichnamige, jahrtausendealte armenische Provinz nennen.

Arzach, dieses Wort ist längst auch Teil des argumentativen Gezerres, dieses History War, den Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach veranstalten, um ihre Gebietsansprüche zu bekräftigen. In diesem Konflikt gibt es nur Schwarz und Weiß. Die Grautöne, so scheint es, hat der Krieg verschluckt.

Dabei zeigt der Bergort Schuschi, einst Heimat zigtausender Menschen und heute auf weniger als 5000 Bewohner dezimiert, dass beide Völker hier einst eine Heimat hatten. In Schuschi schrauben sich Minarette genauso in den Himmel wie Kirchtürme. Wie keine andere Stadt steht Schuschi aber auch für die Gräuel, die sie sich hier im 20.Jahrhundert angetan haben: 1920 wurden die christlichen Armenier in Schuschi von Aserbaidschanern und Türken fast vollständig ausgelöscht, noch heute sind unter den Ruinen der Stadt zerstörte Gebäude von damals.

Drei Jahre nach dem Blutbad, 1923, haben die Kommunisten in Moskau Berg-Karabach als autonomes Gebiet der Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeschlagen. Obwohl dort zu mehr als 90 Prozent Armenier lebten. Viele sagen, dass hier dann in den Achtzigern die Sowjetunion ihren ersten tiefen Riss bekam, als die Armenier („nur“ noch 76,9 Prozent der Bevölkerung) aufbegehrten, den Anschluss an Sowjet-Armenien verlangten, weil ihre Autonomierechte beschnitten wurden. Es kam zu ethnischen Gewaltausbrüchen in Aserbaidschan gegen die armenische Minderheit. Gigantische Flüchtlingsströme brachen sich Bahn – die armenische Minderheit floh aus Aserbaidschan ins autonome Berg-Karabach oder nach Armenien. Und noch mehr Aserbaidschaner setzten sich aus Berg-Karabach und Armenien ab. Am Ende des Krieges hatten mehr als eine Million Menschen ihre Heimat verloren, davon geschätzt mehr als 700.000 Aserbaidschaner.

In Schuschi hatte dieser Krieg eine entscheidende Wendung genommen: Von hier aus hatten die Muslime lang das tiefer gelegene Stepanakert unter Artilleriebeschuss genommen, die Erlöserkirche missbrauchten sie als Munitionslager. Als die Armenier Schuschi 1992 einnahmen, rächten sie sich und wüteten in den muslimischen Vierteln. Auf den Serpentinen hinauf in den Bergort taucht noch heute am Straßenrand ein martialisches Siegerdenkmal auf: ein Panzer der Schlacht um Schuschi. „Ich habe kein Mitleid mit denen, die von hier fliehen mussten“, sagt Edik und zieht an seiner Zigarette. „Ich bin ja selbst Flüchtling.“ Ediks Heimatstadt ist Baku, Aserbaidschan. „Doch 1989 mussten wir unser Hab und Gut zurücklassen und flüchten, weil wir Armenier sind.“ Edik kämpfte danach im Krieg um Berg-Karabach. Der Mann fährt sich mit dem Finger an die Schläfe: Ein Stück seines Schädelknochens haben sie ihm weggeschossen. Heute lebt er als Kriegsinvalide von 60.000 Dram im Monat (etwas mehr als 110 Euro).Natürlich haben sie hier den armenischen Dram, und damit eine Währungsunion mit dem großen Nachbarn. Die engen Bande zwischen Armenien und Berg-Karabach verkörpert keiner besser als Präsident Sersch Sargsjan. Er stammt nicht nur aus Berg-Karabach, sondern führte hier im Krieg auch die sogenannten Selbstverteidigungskräfte an. Wie der Präsident haben viele Berg-Karabacher einen armenischen Pass. Sie brauchen ihn auch, um ins Ausland zu reisen.

Denn ihre De-facto-Republik hat kein Staat der Welt anerkannt. Nicht einmal Armenien, weil es fürchtet, dass Aserbaidschan vom Verhandlungstisch aufsteht und der Konflikt wieder in eine heiße Phase eintritt. Karen Mirzoyan, Außenminister der „Republik“ Berg-Karabach, nimmt es gelassen: „Also, ich bin ja Historiker und weiß aus der Weltgeschichte, dass es viele Länder gibt, die lang ohne internationale Anerkennung überlebt haben und die auch sehr einflussreich wurden. Man denke nur an die USA“, sagt er (siehe Interview).

Es macht diesen Konflikt so gefährlich, dass jederzeit die umliegenden Regionalmächte hineingezogen werden könnten: Die Türkei versteht sich als Schutzmacht des turksprachigen (und ölreichen) Aserbaidschan. 1993 haben sie deshalb die Grenze zu Armenien geschlossen. Sie ist es bis heute. Zugleich sichert der Konflikt Russland Einfluss in den Ex-Sowjetrepubliken. Moskau unterstützt Armenien, beliefert aber auch Aserbaidschan mit Waffen.

Die „Hauptstadt“ glänzt. Trotz dieser regionalpolitischen Verwerfungen: Die „Hauptstadt“ Stepanakert glänzt, die Geschäfte sind nobler, die Parks gepflegter, die Autos teurer als in den meisten Gegenden Armeniens. Es liegt eine ganz andere Stimmung in der Luft als oben im Bergort Schuschi, wo nahezu alle Einwohner Flüchtlinge aus armenischen Dörfern in Aserbaidschan sind. So wie Edik, der Kriegsveteran, oder die alte gepflegte Dame mit Hut, die in ihren Stiefeln an den Ruinen in Schuschi vorbeispaziert. „Ich wollte Deutschlehrerin werden“, erzählt sie. „Deshalb haben sie mich in meinem Dorf die Deutsche genannt.“ „Ihr Dorf“: Das war eine armenische Siedlung in Aserbaidschan. „Ich vermisse meine Heimat sehr“, sagt sie, während sie mit zittrigen Händen ein Taschentuch faltet. „Aber ich will nicht um jeden Preis zurück. Nur nie wieder Krieg, nie wieder.“

Das sieht auch Rima so, die Verkäuferin, die sich vor Silvester fürchtet: „Ich lebe zwar im Zentrum. Aber Wasser und Gas habe ich noch immer nicht“, klagt sie – um dann schnell hinzuzufügen: „Aber alles ertrage ich: nur nie wieder Krieg!“ Ob ihr die Aserbaidschaner leidtun, die von hier flüchten mussten? „Ja natürlich“, sagt Rima. „Mich hat ja eine von ihnen aufgezogen.“ Es habe nie Probleme im Zusammenleben gegeben. Dann verabschiedet sich die Frau und geht – vorbei an der Moschee, in der niemand mehr betet.

ZEITTAFEL

1923: Das zu mehr als 90 Prozent von Armeniern besiedelte Berg-Karabach wird autonomes Gebiet der Sowjetrepublik Aserbaidschan.

1988: Der Gebietssowjet beschließt den Anschluss Berg-Karabachs anArmenien.

2. September 1991: Proklamierung der unabhängigen Republik Berg-Karabach. Aserbaidschan versucht, das Gebiet militärisch wieder unter seine Kontrolle zu bringen.

1992: Bildung der „Minsk-Gruppe“ der OSZE, die sich bis heute unter Vorsitz von Frankreich, Russland und der USA um Beilegung des Konflikts bemüht.

9. Mai 1994: Waffenstillstand tritt in Kraft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2015)

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