Japaner pflegen die Kultur des Nickerchens

U-Bahn Schlaefer in Tokio
U-Bahn Schlaefer in Tokio(c) bilderbox.com (bilderbox.com)
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Japaner können und dürfen fast überall schlafen. Die Gesellschaft toleriert Inemuri – das kurze Schläfchen am Arbeitsplatz. Japaner leiden bei durchschnittlicher Nachtruhe von sechs Stunden an chronischem Schlafmangel.

Tokio. Japan scheint notorisch müde. Im Zug oder in der Metro fallen viele Pendler umgehend in den Schlaf. Sie sinken nicht selten dem Nachbarn auf die Schulter, und sie stehen selbst im schlimmsten Gedränge mit geschlossenen Augen. Im Parlament nicken Abgeordnete oft gruppenweise ein, Kinder schlummern im größten Stadtlärm. Und selbst am Arbeitsplatz ist ein sattes Nickerchen salonfähig – Japaner schlafen fast überall, und jeder toleriert es. Wie für beinahe jedes wunderliche Phänomen haben die Söhne und Töchter des Landes einen treffenden Begriff. Inemuri heißt die weit verbreitete Praxis, am Tag eine Runde zu träumen. Zusammengesetzt aus den Schriftzeichen i für anwesend sein und nemuri für schlafen, was bedeutet, dass man ordentlich am Platz ist und trotzdem schläft. Ursache sei, so der Schlafforscher Kazuo Mishima, „ein nationaler Schlafmangel, ein krasser Fehler des gesellschaftlichen Systems“. Laut Statistik hält der chronisch erschöpfte Japaner durchschnittlich nur noch gut sechs Stunden Nachtruhe.

Viele Angestellte wie der 28-jährige Taisuke Aimono schaffen nicht einmal das. Er verbringt unter der Woche nur vier Stunden im Bett. Sein Tagesrhythmus erlaubt nicht mehr. „Ich arbeite meist bis nach 22 Uhr, nehme noch ein paar Drinks mit Kollegen, fahre eine Stunde nach Hause und sehe noch etwas fern. Da wird es zwei Uhr früh, bis ich umfalle.“ Der junge Mann fühlt sich tagsüber meist groggy und schließt zuweilen die Augen, um – wie auf Knopfdruck – die innere Batterie wieder aufzuladen.

Gegen diesen Kurzschlaf hat sein Chef nichts einzuwenden – im Gegenteil: Weil in Japan frühes Erscheinen und lange Anwesenheit am Arbeitsplatz noch immer als wichtige Tugenden eines guten „Firmenkriegers“ gelten, signalisiert das öffentliche Nickerchen gleichzeitig: Derjenige arbeitet bis zum Umfallen, er opfert sich für die Firma auf. Es ist auch eine Frage der Hierarchie: Je höher ein Japaner auf der Karriereleiter steht, desto demonstrativer darf er im Job schlafen. Dagegen sollten Berufsanfänger die Phasen des Dösens gut dosieren, bis sie sich das Recht auf ein Nickerchen tatsächlich auch verdient haben.

Tradition des öffentlichen Schlafs

Im fernöstlichen Inselreich hat die Kultur des öffentlichen Schlafs eine lange Tradition. Die Samurais hielten im Halbschlaf Wache. Der Zen-Buddhismus vertritt sogar die Lehre, dass der Schlaf dem Meditieren geopfert werden kann. Hinzu kommen gesellschaftliche Notwendigkeiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Nachtruhe von Aufbau- und Arbeitswut verdrängt, danach verkürzte die Unterhaltungswelle – das Gruppenritual des After-Work-Drinks oder der Besuch einer Karaokebar – die Zeit der Erholung.

Der systematische Schlafentzug macht auch vor den Kleinsten nicht halt. Laut Statistik geht ein Drittel der Kinder unter vier Jahren nicht vor 22 Uhr zu Bett. Sport, Nachhilfe, aber auch Internetspiele und Fernsehen gelten als vorrangig. Japanische Schüler, die abends auch nicht so strikt wie anderswo auf die Futons geschickt werden, lernen den Minutenschlaf schon in der Schule, in die sie kurzerhand ein Handtuch für den Schlummer auf der Schulbank mitnehmen.

Mediziner erklären zwar, kein Nickerchen könne den chronischen Schlafmangel ausgleichen. Schlechte Konzentration bei der Industriearbeit oder auch im Straßenverkehr, werfen Experten ein, seien ein permanentes Risiko für die Gesellschaft. Aber generell segnen auch sie ein kurzes Schläfchen zur Mittagszeit ab. Professor Tadao Hori von der Hiroshima-Universität rät zu jeweils 15-Minuten-Rhythmen, um die nächsten zwei bis drei Stunden fit und munter zu sein.

Schlafkabinen für Siesta

Der kurze Nap ist längst auch ein Geschäft geworden. Wie das Magazin „Nikkei Trendy“ berichtet, bieten immer mehr kommerzielle Studios wie der Good Sleep Salon Napia in Tokios Büroviertel Nihonbashi Schlafkabinen für das Nickerchen. Eine 40-minütige Siesta ist für Klubmitglieder für umgerechnet sechs Euro zu haben. In Warenhäuser finden ermattete Büroangestellte und VerwaltungsSamurais eine große Auswahl an Schlaf-Accessoires – von Augenmasken, Entspannungsdüften über Ohrstöpsel bis hin zu speziellen Kissen, die auf den Schreibtisch gelegt werden können.

Der tolerierte Büroschlaf wird so im Arbeitsalltag in Tokio, Osaka, Kyoto und anderen Großstädten immer öfter sogar zur Regel. Zunehmend erlauben Firmen ihren Mitarbeitern, einmal am Tag eine Viertelstunde lang den Kopf auf den Schreibtisch zu legen. Andere richten sogar Ruheräume mit Couches ein. Nur hochgelegte Beine und lautes Schnarchen bleiben verpönt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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