China: Stadt in Angst vor Giftwolke

A damaged building is seen among debris at the site of Wednesday night's explosions in Binhai new district of Tianjin
A damaged building is seen among debris at the site of Wednesday night's explosions in Binhai new district of TianjinREUTERS
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Nach den Explosionen in Tianjin steht fest: Es starben viel mehr Feuerwehrleute als vorher zugegeben, und giftige Chemikalien traten aus.

Tag vier nach der schweren Explosionskatastrophe von Tianjin: In der Innenstadt der chinesischen 15-Millionen-Metropole sind auf den Straßen kaum Menschen zu sehen. Und wenn, dann haben sie Atemmasken auf oder halten sich Hände vor den Mund. Denn seit Freitag kursiert das Gerücht, dass bei den verheerenden Explosionen am Mittwoch in einer Lagerhalle am Hafen nicht nur leicht entzündbares Calciumcarbid gelagert wurde: Es soll auch hochgiftiges Natriumzyanid ausgetreten sein, ein Salz der Blausäure. Wer nur ein wenig davon einatmet, droht an Atemlähmung zu sterben.

Tatsächlich haben lokale Militärs am Sonntag zugegeben, dass mehrere hundert Tonnen dieser zudem leicht entzündbaren Substanz, die etwa beim Galvanisieren benutzt wird, auf dem Gelände waren. Schon am Freitag waren von staatlichen Medien alle Anwohner im Umkreis von drei Kilometern aufgefordert worden, ihre Wohnungen zu verlassen. Die meisten Meldungen dazu im Internet sind seit Samstag jedoch gelöscht.

Hunderte Vermisste möglich

Fünf Tage nach dem verheerenden Explosionsunglück im Hafen der nordchinesischen Metropole Tianjin ist die Zahl der Toten auf 114 gestiegen. Es gibt mehr als 700 Verletzte. 70 Menschen werden vermisst, darunter zahlreiche Feuerwehrleute, allerdings wird sogar über hunderte Vermisste gemunkelt, unter anderem wegen zahlreicher illegal beschäftigter Hafenarbeiter, die sich die Behörden vorerst weigern, mitzuzählen.

Bei einem öffentlichen Auftritt von Behördenvertretern in einem Hotel von Tianjin kam es am Samstag zu wilden Szenen. Angehörige vermisster Feuerwehrmänner stürmten die Pressekonferenz und beklagten Vertuschung. Die Behörden hätten es nicht für nötig gehalten, sie unmittelbar zu informieren. Als Sicherheitskräfte versuchten, sie aus dem Saal zu drängen, gab es Handgreiflichkeiten. „Ich will bloß wissen, was mit meinem Sohn geschehen ist“, rief eine Mutter eines Feuerwehrmanns.

Das Staatsfernsehen zeigte am Sonntag Luftaufnahmen vom Unglücksort. Die Bilder machen das Ausmaß der Katastrophe deutlich: Zumindest die zweite Detonation mit einer Sprengkraft von geschätzten 21 Tonnen TNT hat einen riesigen Krater gerissen. Umliegende Lagerhallen sind abgebrannt, hunderte Schiffahrtscontainer wurden durch die Luft gewirbelt, hunderte Autos verbrannten. „Es sieht aus wie nach einem Bombenangriff“, kommentierte ein Reporter.

Armee löste Feuerwehr ab

Tatsächlich brannte es auch am Sonntag noch da und dort. Immer wieder lodern Feuer auf, und es gibt kleine Explosionen. Die Bergungs- und Löscharbeiten stocken, denn angesichts der hohen Opferzahl unter der Feuerwehr hat die Stadtverwaltung ihre Brandbekämpfer abgezogen. Stattdessen sind nun mehr als 200 ABC-Spezialisten der Armee im Einsatz. Ausgerüstet mit schwerer Schutzkleidung sollen sie nach brisanten und giftigen Chemikalien fahnden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2015)

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