Amerikas mörderische Welle

A man gestures on the side of West Florissant Ave. as a much smaller group of demonstrators prepare to protest for another night in Ferguson, Missouri
A man gestures on the side of West Florissant Ave. as a much smaller group of demonstrators prepare to protest for another night in Ferguson, Missouri(c) REUTERS (LUCAS JACKSON)
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Erstmals seit Jahren erleben viele US-Städte steigende Mordraten. Fast alle Täter und Opfer sind junge schwarze Männer, immer öfter sind Streitereien um Kleinigkeiten die Auslöser.

In der Samstagnacht vor einer Woche war auch in Washington die traurige Schwelle erreicht: Der 21-jährige Shaheed James war der 105. Mensch, der heuer in der US-Hauptstadt gewaltsam ums Leben gekommen war. Somit gibt es hier in diesem Jahr bereits so viele Mordopfer wie im gesamten Jahr 2014.

Washington ist kein Einzelfall. In mehr als 30 US-amerikanischen Großstädten steigen heuer die Mordraten gegenüber dem Vorjahr. Dieses Phänomen lässt sich in den USA allerorten feststellen: an der Ostküste in Baltimore und Washington ebenso wie am Pazifik in Seattle und San Francisco, in Millionenmetropolen wie New York und Chicago ebenso wie in Kleinstädten wie Hartford in Connecticut und Roanoke in Virginia. So sehr sich diese Städte unterscheiden, eint sie in dieser Frage zweierlei: Fast alle Täter und Opfer sind junge Schwarze. Und fast alle Morde geschehen in den verwahrlosten Ghettos. In der 600.000-Einwohner-Stadt Baltimore zum Beispiel wurden allein im Monat Juli 45 Menschen umgebracht: so viele wie seit 1972 nicht mehr. 44 der Opfer waren männlich, viele vorbestraft, nur zwei nicht schwarz.


Der Ferguson-Effekt. Für den heurigen Anstieg der Zahl von Tötungsdelikten gibt es viele Erklärungsversuche, doch keiner ist für sich allein ausreichend. Vertreter der Polizeigewerkschaften führen gern den sogenannten Ferguson-Effekt an. Ihm zufolge hielten sich Polizisten landesweit nach der Erschießung des schwarzen Jugendlichen Michael Brown durch den weißen Polizisten Darren Wilson vor einem Jahr in der Kleinstadt Ferguson westlich von St. Louis bei Amtshandlungen zurück, um keine Disziplinarverfahren oder Strafprozesse zu riskieren, falls sie im Zug einer Amtshandlung von der Dienstwaffe Gebrauch machen müssen. In Baltimore scheint sich dieser Effekt nachweisen zu lassen: Nach der Suspendierung von sechs Polizisten, die im April bei einer Verhaftung den jungen Schwarzen Freddie Gray so schwer misshandelt hatten, dass er wenig später im Krankenhaus an einem Wirbelsäulenbruch starb, hat sich die Verhaftungsrate halbiert. Bei den Ausschreitungen nach Grays Tod, im dren Rahmen Häuser angezündet und Geschäftslokale geplündert wurden, hielt sich die Polizei stark zurück. Gleich danach schoss die Mordrate empor.

Doch in anderen Städten taugt der Ferguson-Effekt nicht zur Erklärung. Richard Rosenfeld, ein Verbrechensforscher von der University of Missouri-St. Louis, wies dieser Tage gegenüber der „New York Times“ darauf hin, dass die Mordrate in St. Louis bereits im Jahr 2014 zu steigen begonnen habe.

In Washington wiederum starb das 105. Mordopfer Shaheed James genau an jenem Wochenende, an dem Polizeipräsidentin, Cathy Lanier, unter dem Motto „Alle Hände an Deck“ über einen Zeitraum von 48 Stunden alle rund 3000 diensttauglichen Beamten auf Straßenpatrouillen schickte. Laniers Stab teilte mit, dass die Verbrechensrate während dieser Aktion um 40 Prozent gegenüber demselben Wochenende vor einem Jahr gesunken sei und die Polizisten 34 illegale Feuerwaffen beschlagnahmt hätten.

Die Washingtoner Polizeichefin weist regelmäßig auf die steigende Rate von Wiederholungstätern hin, die trotz Vorstrafen wegen Delikten mit Waffen erneut zur Pistole oder zum Revolver griffen. Per Anfang August hatten 44 Prozent der heurigen Mordverdächtigen eine einschlägige Vorstrafe; vor einem Jahr waren es nur 27 Prozent.

Noch etwas beunruhigt die Washingtoner Polizeichefin: die wachsende Verbreitung aggressionsfördernder synthetischer Drogen, allen voran des im rechtlichen Graubereich befindlichen synthetischen Cannabis. 44 Prozent all jener, die heuer in der US-Hauptstadt wegen des tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte verhaftet wurden, hätten unter dem Einfluss synthetischer Drogen gestanden. Dasselbe galt für 36 Prozent jener, die wegen bewaffneten Raubüberfalls hinter Gittern landeten. „Synthetische Drogen haben nun Kokain neben Marihuana als die bei Tests von Arrestanten am häufigsten gefundenen Drogen abgelöst“, schrieb Lanier in einem veröffentlichten Meinungsaustausch mit einem besorgten Bürger.


Seelische Verrohung. Zum Rauschgift, fehlenden positiven männlichen Vorbildern und der leichten Verfügbarkeit von Schusswaffen in Amerikas Städten kommt bei vielen Jugendlichen oft eine seelische Verrohung. „Wir hatten in New Orleans immer recht hohe Mordraten“, sagte der pensionierte Vorsitzende des Strafgerichtshofes von New Orleans, Calvin Johnson, zur „Presse am Sonntag“. „Aber der jetzige Anstieg liegt stark an der Einstellung: Mir ist alles egal. Ich bin mir selbst egal, die anderen sind mir egal – weil sich niemand um mich kümmert. Wir haben obdachlose Kinder in unseren Schulen, und wir kümmern uns nicht darum. Und sie wissen, dass wir uns nicht um sie kümmern.“

So werden kleinliche Streitereien um Handys oder Mädchen für manche Burschen zu einem Angriff auf die Ehre, die sie nur mit Schusswaffen verteidigen zu können glauben. In vielen aktuellen Mordfällen zeigt sich, dass Täter und Opfer einander kannten, manchmal Freunde waren, die wegen Nichtigkeiten auf Facebook oder dem Schulhof zu streiten begannen – Streitigkeiten, die fatal endeten.

Der heurige Anstieg der Mordraten bedeutet allerdings nicht, dass das langjährige Sinken der Zahl von Tötungsdelikten in den USA sich nun wendet. Vor zehn Jahren gab es in Washington noch 196 Mordfälle, vor zwanzig Jahren gar 361. In Chicago wiederum, wo allein am vergangenen Mittwoch acht Menschen erschossen wurden – so viele wie seit einem Jahrzehnt nicht – , kamen heuer bisher 326 Menschen gewaltsam ums Leben, ein Anstieg von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In den 1980er- und 1990er-Jahren jedoch gab es in der Stadt Jahr für Jahr mindestens 600 Mordopfer – und in manchen gar 900.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2015)

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