Der lange Weg aus Sofias Mahala

Familie in Bulgarien
Familie in Bulgarien(c) Teresa Schaur-Wünsch
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Kinder aus schwierigen Verhältnissen gehen in Sofia oft nicht oder nur unregelmäßig in die Schule. Die Sozialorganisation Concordia bietet ihnen eine Perspektive.

Sofia. Als Erstes fallen einem die dürren, braunen Pferde auf. Hier und da sieht man eines abseits der holprigen Straße, mit einem Pflock am Boden angebunden, auf einem Stück Grasland weiden. Langsam werden die ärmlichen Häuser noch ärmlicher, der Müll mehr. Und dann ist man mitten in der Mahala.

Mahalas, einfach „Nachbarschaft“ oder „Viertel“, heißen hier in Sofia auch die Armenviertel, in denen vorwiegend Roma leben. Notdürftig auf fremdem Land errichtete Siedlungen, aus Spanplatten, Wellblech, Karton und manchmal ein paar Ziegeln, oft mehr Baracke als Gebäude.

Ankas Haus besteht aus genau einem Zimmer. Darin: ein großes und ein kleineres, ordentlich gemachtes Bett, ein fleckiger Teppich, ein Wohnzimmerschrank aus den Fünfzigern, dem Aussehen nach irgendwo am Sperrmüll gefunden, ein Bild mit gestickten Blumen. Auf einem uralten Schwedenofen steht ein Kübel Wasser. Irgendwo abgezweigter Strom liefert Licht. Eine Küche, Vorräte, ein Badezimmer oder einen Tisch, an dem man Hausaufgaben machen könnte, gibt es nicht. Den Tag hat Anka damit verbracht, gesammeltes Feuerholz klein zu hacken. Ihre fünfjährige Tochter Dewa hat ihr geholfen. Ihre Tochter leide an Epilepsie, sagt Anka, sie habe Angst, sie in den Kindergarten zu schicken.

Ihren Sohn Damian haben Sozialarbeiter der Hilfsorganisation Concordia bei einem ihrer Besuche in der Mahala aufgestöbert. Seit er seine Nachmittage im Concordia-Tageszentrum verbringt, geht er regelmäßig in die Schule. Irgendwann wurde er von seiner Mutter immer seltener abgeholt, eines Tages gar nicht mehr. Sie habe damals in einer noch kleineren Behausung gewohnt, sagt sie erklärend.

An diesem Abend sitzt Damian im hellen, freundlichen Besprechungsraum im Sweti Konstantin, einem ehemaligen Mehllager, das mit österreichischen Sponsoren wie Strabag und Raiffeisen zu einem Sozialzentrum für Kinder und Jugendliche umgebaut wurde. Der Achtjährige gibt den Besuchern die Hand, zeigt spontan einen Handstand. Im Sweti Konstantin gefalle es ihm sehr gut, sagt er und erzählt von Freunden und seinem Fußballtraining, von Urlaubscamps und dem hauseigenen Shop. Vom dem Spiel mit Plastikschraubverschlüssen, das die Kinder oft spielen. Und davon, dass er Polizist werden will.

Es sind Kinder wie Damian, aus benachteiligten, sozial instabilen Verhältnissen, denen Concordia in Bulgarien eine Chance geben will. Oft sind die Eltern arbeitslos, alkohol- oder drogensüchtig, psychisch krank. Kinder werden betteln oder Müll sammeln geschickt. Das Sweti-Konstantin-Zentrum bringt solche Kinder in die Schule, danach bekommen sie eine Mahlzeit und werden den Nachmittag über betreut. Andere leben ständig hier.

Auch für junge Erwachsene gibt es eine Wohngruppe und eine Notschlafstelle. Ursprüngliche Zielgruppe der einst von Jesuitenpater Georg Sporschill in Rumänien gegründeten Organisation waren Straßenkinder. Von ihnen gibt es in Bulgarien, wohin Concordia 2008 expandierte, nur noch wenige. Dafür viele junge Leute, die ihre Kindheit in staatlichen Heimen verbracht haben – und mit 18 auf der Straße landeten. Oft, weil es an sozialen Kompetenzen mangelt, um Jobs (die es gibt) auch zu behalten.

Lernen zurechtzukommen

Die von Concordia betreuten Kinder sollen deshalb schon früh lernen, sich in einer marktwirtschaftlich orientierten Welt jenseits geschützter Institutionen zurechtzufinden. Schon die Kleinen bekommen für einfache Arbeiten Punkte, mit denen sie im erwähnten Shop Naschzeug oder Kleidung kaufen können. „Es ist für uns wichtig, dass sie kein falsches Sicherheitsgefühl bekommen“, sagt Diljana Gjurowa, die Länderverantwortliche für Bulgarien, eine heitere Mittdreißigerin.

In einer ruhigen Wohngegend hat sie vor Kurzem ihr jüngstes Projekt eröffnet: Eine „familienähnliche Wohngruppe“, ein kleines Haus, in dem acht Kinder mit Betreuern leben. Deinstitutionalisierung heißt der Prozess, der auch in Bulgarien im Gang ist. Neu sind auch der sozialökonomische Friseurladen und der Fußballverein, mit dem die Kinder nun an der Meisterschaft teilnehmen können – mit Damian als starkem Spieler.

Wofür die Pferde gebraucht werden, klärt sich auch noch an diesem Nachmittag in der Hütte seiner Mutter. Ein Hund springt auf, läuft bellend einem Pferdekarren entgegen. Vier Leute springen herunter und beginnen, die tagsüber gesammelten Metallteile abzuladen, um sie später zu verkaufen. Für Romafamilien bis heute oft die einzige Einkommensquelle.

(c) Die Presse

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

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