Südirak: Das verlorene Paradies

A fisherman casts a net as he fishes in Euphrates river in Falluja
A fisherman casts a net as he fishes in Euphrates river in FallujaMohanned Faisal
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In Urzeiten soll hier der Garten Eden gewesen sein, dessen Auen den Schöpfungsbericht der Bibel inspirierten. Doch nun bedroht eine Dürre die Marschen im Südirak. Eine Reportage.

Glutrot leuchtet die Morgensonne über den Wassern, in der Ferne kräht ein Hahn, während das schlanke, schneidige Boot durch die Schilfstraßen gleitet. Wie in Granit gemeißelt stehen die schwarzen, tropfenden Wasserbüffel am Ufer. Kingfischervögel kreisen akrobatisch in der Luft, um sich plötzlich im Sturzflug mit langem Schnabel ihre Beute zu schnappen.

In Urzeiten soll hier der Garten Eden gewesen sein, dessen Auen und Vegetation den Schöpfungsbericht der Bibel inspiriert hat. 50 Arten an Fischen und 280 an Vögeln zählten Wissenschaftler zu den besten Zeiten, als die majestätischen Marschen von Euphrat und Tigris ein Fünftel der irakischen Staatsfläche bedeckten und 800.000 Menschen in den labyrinthischen Sümpfen lebten. Seit fünf Jahrtausenden siedeln sie im Herzen Mesopotamiens und bewahrten sich ein einmaliges Universum aus Fischfang und Büffelzucht, Vogeljagd und Schilfanbau. Ohne die Marschen wäre die sumerische Hochkultur nie entstanden, die Schrift und Mathematik erfand. Uruk, die Heimat des „Gilgamesch-Epos“, ist die älteste Stadt der Welt.

Jassim Alasadi hockt an der Spitze des Bootes, das bei den Einheimischen Shahtura genannt wird, und mustert stumm die vorüberziehende Wasserwelt. Auf den Planken unter einer Wolldecke liegt die Kalaschnikow des jungen Steuermanns. Immer wieder muss er den Außenbordmotor hochklappen und schrammt das Kanu über den Grund. Paradiesisch ist es hier schon lang nicht mehr. Mit einem Summen meldet sich das allmorgendliche SMS seines Mitarbeiters. Diesmal hält Jassim Alasadi das kleine Handy so dicht vors Gesicht, als würde er seinen Augen nicht trauen. 34 steht auf dem Display – die Naturkatastrophe zu einer Zahl geronnen. Noch nie war der Wasserstand des Euphrat so niedrig. 34 Zentimeter Höhe zeigt die Messlatte unter der wuchtigen Stahlbrücke, die Saddams Armee 1991 bei ihrem Feldzug gegen die aufständischen Marsch-Araber in das sensible Ökosystem gerammt hat. Bei jedem Auto scheppern die Metallplanken der Fahrbahn, an deren Rändern jahrelang die verhassten Kontrollposten des Diktators standen. Vor einem Jahr war die Wasserlinie noch bei satten 136 Zentimetern. Jetzt liegt der schwarze Schlick entblößt in der aufgehenden Sonne zusammen mit Skeletten untergegangener Holzboote. Allein in den vergangenen zwei Wochen verlor der Euphrat 20 Zentimeter, seit Beginn der irakischen Dürre vor neun Monaten sind es über einen Meter.

Jassim Alasadi ist Wasserbauingenieur und hauptamtlicher Naturschützer im Marschland von Euphrat und Tigris. Seit 2004 arbeitet er für die kleine NGO Nature Iraq, deren dreißig Mitarbeiter sich hauptsächlich aus internationalen Mitteln finanzieren. In der gesamten Gegend ist der drahtige, kleine Mann mit dem hellen Lachen bekannt wie ein bunter Hund. Selbst Polizisten an Kontrollpunkten nennen ihn stolz den Vater der Marschen. Als kleiner Junge ist der 59-Jährige mit dem Holzboot zur Schule gepaddelt.

Heute ist der Wasserpegel so kümmerlich, dass das legendäre Biotop vor dem endgültigen Kollaps steht. Vieles kommt zusammen, chronischer Regenmangel durch Klimawandel, zwei gigantische neue Tigrisdeiche in der Türkei, vom Islamischen Staat (IS) als Kriegswaffe eingesetzte Euphratsperren in Tabqa, Raqqa, Fallujah und Ramadi sowie eine absurde Verschwendung in der irakischen Landwirtschaft am Oberlauf der beiden Ströme. Bewässert wird wie vor 4000 Jahren mit offenen Kanälen, aus denen bei 50 Grad im Sommer ungeheure Mengen verdunsten.

Schon einmal drohte den Marschen die Vernichtung, 1991, als sich die Schiiten gegen Saddam Hussein erhoben und die Rebellen in den unwegsamen Sümpfen Zuflucht suchten. Der Tyrann schickte seine Ingenieure, 40.000 Soldaten und alle Bagger hinterher, die sich im Land auftreiben ließen. Im Eiltempo wurden 520 Kilometer Dämme aufgeschüttet, schnurgerade Kanäle mit Namen wie „Mutter aller Schlachten“ und „Loyalität dem Führer“ gezogen, die das Wasser direkt ins Meer leiteten. Ein halbes Jahr später waren die Sümpfe trocken und 90 Prozent der Bewohner geflohen. Von den 60.000 Einwohnern der Kreisstadt Chubaisch blieben nur 6000. Alle anderen wurden vertrieben, eingesperrt oder hingerichtet, die ausgedorrten Schilfwälder und ihre 200 Strohhüttendörfer mit Napalm niedergebrannt.


Verstreut. Erst der Sturz des Regimes durch die amerikanische Invasion brachte nach zwölf Schreckensjahren die ersehnte Wende. Aktivisten rissen die Dämme ein, innerhalb von Monaten erwachte das geschundene Ökosystem wieder zum Leben. Und mit dem Wasser kamen auch die Menschen zurück. Vor der Saddam-Katastrophe hatten alle Reeddörfer einen sogenannten Mudif, ein aus gebogenen Schilfsäulen konstruiertes Gemeindehaus, plus Gesundheitsstation, Läden und Stromanschluss. Zu je vier Siedlungen gehörte eine schwimmende Schule. Heute gibt es keine intakten Dörfer mehr, die traditionellen Strohhütten sind verstreut in den Marschen, die Familien allein mit ihren Wasserbüffelherden.

Seit Beginn der Jahrhundertdürre im März 2015, so schätzt Naturschützer Jassim Alasadi, haben 90 Prozent der Marschbauern aufgegeben, allein in den vergangenen beiden Monaten waren es 200 Familien. Die säbelförmigen Boote, die früher durch die Schilfgassen gejagt sind, müssen langsam fahren und bleiben häufig im Schlamm stecken. Wer von den Viehzüchtern noch durchhält, muss mittlerweile ständig mit seien Büffelherden umziehen, weil es kein frisches Grün mehr gibt. Wie Ahmed Shuwein al-Ghalibi und seine Frau, Umm Yousef. Ihre fünf halbwüchsigen Söhne füttern gerade die Tiere, die beiden Mädchen machen den Abwasch. 2004 gehörte das Paar zu den ersten Neusiedlern in den wiederauferstandenen Marschen. Ihre 60 Tiere sind um den Hof herum angepflockt.


Viel zu salzig. Doch das Sumpfwasser ist viel zu salzig, voller Schwermetalle und vergiftet die Tiere. Andere Bauern haben bereits ein Viertel ihres Bestandes verloren. Überall bildet sich eine weißliche Kruste, die unter den Schuhen knirscht. Und so muss Ahmed jeden Tag mit dem Boot nach Chubaisch und 2000 Liter gefiltertes Wasser heranschaffen. „Unser Leben wird immer beschwerlicher“, sagt der 31-Jährige, dem die Existenzsorgen manchmal den Schlaf rauben. Seine Wasserbüffel geben nur noch vier Liter Milch am Tag, früher waren es acht oder auch zehn. „Wenn das so weitergeht, müssen wir alle Tiere verkaufen und in die Stadt ziehen.“ Dann beginnt er, die blauen Plastikplanen und Futtersäcke vom Hüttendach zu zerren, während einer seiner Jungen die rostige Satellitenschüssel herunterreicht. Die Mädchen raffen die Synthetikdecken zusammen, der ganze Hausrat passt auf die beiden schmalen Kanus der Familie. Am frühen Nachmittag steht ihr Reedhaus bereits an neuer Stelle, auch die Tiere sind nachgeholt. Um 17 Uhr wird es in den Marschen dunkel, dann bleibt ihnen in der nachtkalten Einsamkeit nur der Fernseher, den ein Generator antreibt.

Jassim Alasadi hat sich auf dem Boot gegen die Kälte in seinen schwarzen Wollmantel geschlagen. Auf dem Rückweg fängt er unvermittelt an zu singen. „Schau auf uns, was hier passiert, wie wir leiden“, singt er, einmal, zweimal, dreimal, bis sich die Melodie über dem kalt glitzernden Wasser verliert. Versonnen schaut er auf die geliebten Marschen, die ihn sein Leben begleitet, beschäftigt und verzaubert haben. „2003 haben wir gehofft, der Sturz von Saddam Hussein werde ein neues Kapitel in unserem Leben aufschlagen“, sagt er. „Doch nichts ist passiert, nichts hat sich verbessert.“

Lexikon

Mesopotamien. Dieser Begriff, der im Griechischen „Land zwischen den Flüssen“ bedeutet, bezeichnet die Kulturlandschaft zwischen den großen Flüssen Euphrat und Tigris im heutigen Irak. Das weitgehend flache, von Bächen, Seen und Sümpfen durchsetzte Land war eine Wiege der post-steinzeitlichen und sesshaften Zivilisation mit Landwirtschaft und großen dauerhaften Siedlungen. Älteste Artefakte werden auf das elfte Jahrtausend vor Christus datiert, ab dem sechsten
Jahrtausend v. Chr. beginnen sich Städte zu bilden. Die erste bekannte Hochkultur der Welt, die Stadtstaaten der Sumerer wie Ur, Uruk, Eridu und Lagasch, tritt ab etwa 5400 v. Chr., noch deutlicher ab etwa 3500 v. Chr. in Erscheinung.

Schlamm aus Flüssen und Sümpfen war in der Region aus Schwemmland und Wüste, wo es kaum Bäume und Gesteinsvorkommen (Felsen, Berge, Hügel) gibt, in Verein mit Schilf das wichtigste Baumaterial. Ganze Städte samt Tempel und Palästen bestanden aus Schlamm bzw. Schlammziegeln, die aber nur in teureren Versionen gebrannt wurden. Bei starkem Regen wurden billig gebaute Gebäude daher oft beschädigt, lösten sich teilweise oder ganz auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2016)

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