Türkei: Später Prozess nach Ehrenmord

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Knapp elf Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü müssen sich ihre älteren Brüder in Istanbul vor Gericht verantworten. Der Tod Sürücüs hat die Debatte über Ehrenmorde entfacht.

Istanbul/Wien. Ayhan Sürücü ist bei seiner Schwester Hatun. Die Stimmung ist schlecht, sie streiten. Schließlich schlägt er vor, sie solle ihn zur nahe gelegenen Bushaltestelle begleiten. Die Nacht ist kalt, Hatun hat Kaffeetasse und Zigarette in der Hand. Dass ihr Bruder eine Waffe bei sich trägt, weiß sie wohl nicht. „Bereust du deine Sünden?“, fragt Ayhan. Dann: drei Schüsse in den Kopf. Als die 23-jährige Hatun im Berliner Ortsteil Tempelhof niedergestreckt wird, schläft oben in der Wohnung ihr kleiner Sohn. Ayhan wird später über seine Schwester sagen: „Sie lebte zu offen, was ihre Beziehungen zu Männern angeht.“

Am 7. Februar jährt sich der sogenannte Ehrenmord an Hatun Sürücü zum elften Mal, und noch immer beschäftigt der Fall die Gerichte. Ab dem heutigen Dienstag stehen Hatuns Brüder Mutlu und Alpaslan in Istanbul vor Gericht. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, den jüngeren Bruder Ayhan zum Mord angestiftet zu haben. Im Gegensatz zu Ayhan, der die Tat gestanden und über neun Jahre in einem deutschen Gefängnis verbracht hat, wurden die älteren Brüder in erster Instanz freigesprochen; anschließend setzten sie sich in die Türkei ab. Der Bundesgerichtshof Leipzig hob das erste Urteil aus Mangel an Beweisen auf, zu einem weiteren Verfahren gegen Mutlu und Alpaslan kam es jedoch nicht. Die Türkei wollte die Brüder nicht ausliefern. Jahre später hat Istanbul eigene Ermittlungen eingeleitet, dafür hat Berlin alle Unterlagen zum Mord an Hatun in die Türkei geschickt.

Fundamentalistische Kreise

Der Fall Hatun Sürücü hat über die Grenzen Berlins hinaus für Entsetzen gesorgt und eine breite Debatte über sogenannte Ehrenmorde entfacht. Sozialarbeiter berichteten, dass die große mediale Präsenz immer mehr betroffene Frauen dazu bewogen hat, sich an Hilfsstellen zu wenden. Sürücüs Tod war Auslöser für eine Reihe von Initiativen, etwa an Berliner Schulen, aber auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Der Fall wurde literarisch und filmisch verarbeitet.

Die Eltern Hatuns, sunnitische Kurden, waren in den 1970er-Jahren als Arbeiter nach Deutschland gekommen. Gemeinsam mit ihren neun Kindern wohnten sie in einer Vierzimmerwohnung in Berlin-Kreuzberg. Der Vater war strenggläubig, bewegte sich angeblich in fundamentalistischen Kreisen. Weil sie nicht nach seinen Vorstellungen leben wollte und aufsässig war, nahm er die Tochter Hatun aus dem Gymnasium. Sie war erst 16 Jahre alt, als sie mit ihrem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet wurde. Dort wurde Hatun nicht glücklich. Als sie aus Istanbul floh und zurück zu ihren Eltern zog, war sie schwanger. In Berlin kam auch ihr Sohn auf die Welt. Und Hatun hatte nun eigene Pläne für ihr Leben. Sie suchte eine Wohnung, legte das Kopftuch ab, begann eine Lehre als Elektroinstallateurin. Die Brüder waren aufgebracht. Hatun suchte zwar die Nähe ihrer Geschwister, berichtete gegenüber Sozialarbeitern und Polizei auch von Drohungen. „Warum möchte man sich so schön anziehen? Rausgehen?“, sagt der Bruder Mutlu in einer Doku („Verlorene Ehre“, 2011) über Hatun. „Um Männer anzumachen!“

Dass Mutlu und Alpaslan in den Mordfall verwickelt waren, sagt die ehemalige Freundin des Todesschützen Ayhan. Ihr soll er berichtet haben, dass er die Schusswaffe von Mutlu habe. Und Alpaslan sei in der Tatnacht in der Nähe gewesen, um ihn zu unterstützen. Nahezu alle Beobachter, die sich im vergangenen Jahrzehnt mit dem Fall befasst haben, können bei den Gebrüdern keine ehrlich gemeinte Reue ausmachen. Zu dritt sollen sie in Istanbul einen Imbiss betreiben. Jüngst schaffte es Ayhan Sürücü wieder in die Schlagzeilen: Auf Facebook soll er die islamistischen Attentäter von Paris bejubelt haben. (duö)

Zur Person

Die Deutschtürkin Hatun Sürücü wurde im Februar 2005 von ihrem damals 18-jährigen Bruder, Ayhan, in Berlin erschossen. Der Familie missfiel ihr offener Lebensstil.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2016)

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