Vor fünf Jahren kam die See

The tsunami-devastated Iwaki city in Fukushima prefecture  is seen in these images in this combination picture.
The tsunami-devastated Iwaki city in Fukushima prefecture is seen in these images in this combination picture.REUTERS
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Noch immer ist nach dem Superbeben samt Tsunami und dem AKW-Unglück vom März 2011 die Welt in der Unglücksregion in Nordjapan aus den Fugen. Aber es gibt auch Lichtblicke.

Trauriges Finale, aber kein Schlussstrich. Schweigend verbrennen Frauen und Männer in der nordostjapanischen Stadt Sendai Schulranzen, Rucksäcke, Sporttaschen, Musikinstrumente. Drei Tage lang. Die Sachen waren nach dem Seebeben und dem folgenden Tsunami am 11. März 2011 an die Ufer des Pazifik geschwemmt, gesammelt und von den Behörden in der Hoffnung aufbewahrt worden, ihre Besitzer oder deren Hinterbliebene würden sich melden und die Fundstücke abholen.

Rund 3000 solcher Überbleibsel namenloser Schulkinder hat das Team um Hiroshi Ogasawara katalogisiert, es wurden Besichtigungen organisiert und Anfragen beantwortet. Seit April 2015 haben sich aber nur noch zwei Leute gemeldet. „Deshalb geben wir jetzt auf. Es ist bitter, dass wir so viele persönliche Dinge vernichten müssen“, klagt der 43-jährige Beamte.

Fünf Jahre nach der Katastrophe mit Jahrhundertbeben, Tsunami und der Zerstörung des AKW Fukushima ringt die Region weiter mit ihrem Schicksal und um Normalität. In der Präfektur Miyagi, die zu der am heftigsten betroffenen zählt, graben 160 Polizisten an Stränden weiter nach sterblichen Überresten. Auf Knien wühlt Tamami Kitamura im Schlick und findet einen Knochen, der von einer Hand sein könnte. „Vielleicht gibt uns das einen Hinweis“, hofft die Polizistin (24). „Die Hinterbliebenen wollen wenigstens Gewissheit haben.“ Noch werden mehr als 2500 Menschen vermisst.


Der Jobwunsch wurde klar: Polizistin. Im März 2011 wusste die damalige Maturantin noch nicht, was sie lernen solle. Dann sah sie die unglaublichen Bilder der Flut, schwimmende Häuser, Autos und Züge, gestrandete Schiffe. Und da war die Angst vor den zerstörten Reaktoren. Sie bangte um einen Onkel in der Millionenstadt Sendai. Da auch die überschwemmt wurde, konnte sie den bekannten Baseballspieler und Trainer Takeshi Yamasaki nicht erreichen. Telefon, Web, nichts ging. Später überlegten beide, wie sie helfen könnten. Der Profi spendet jetzt Teile seiner Gage für Waisen, die Nichte wurde Polizistin in den Katastrophengebieten. Im Herbst trat sie ihren ersten Posten an der Iwanuma-Polizeistation an, die am 11. März 2011 sechs Mann verloren hatte. Seither sucht sie nach Leichen, tröstet Menschen in Notunterkünften, wo noch mehr als 200.000 Japaner ausharren.

Auch mit anscheinend unspektakulären Mitteln nützlich zu sein ist die Devise einer ungewöhnlichen Initiative. Ohne große Hoffnung haben sich Frauen in einem Sammellager für Spenden in Kesennuma nach Nützlichem umgesehen. Einen Monat nach dem Unglück fanden sie in einem Regal Wolle. Einen Karton kunterbunter Knäuel zum Stricken – ein deutsches Geschenk mit passenden Nadelsets, wie sich herausstellte. Die Verwaltung hatte die Gabe wohl für unpassend erachtet, weil man Essen oder Bekleidung brauchte und kein Hobby-Zeug. Aber viele Frauen, die in der Turnhalle lagerten, waren begeistert. Also rief man die Absenderin der Spende an und bat um Nachschub. Die, Martina Umemura, war überglücklich. Die Deutsche, die 1987 als Medizinstudentin nach Japan kam, heiratete und mit ihrem japanischen Mann und zwei Söhnen in Kyoto lebt, hatte die Erdbebenopfer im TV gesehen. „Ich wollte etwas hergeben, was die Menschen ablenkt.“

Der Tsunami hat in Kesennuma einen Öltank umgekippt, der sich entzündete. Märkte, Fabriken und andere Betriebe, in denen die Frauen gearbeitet hatten, brannten nieder, ein Drittel der Stadt ging unter. Umemura besuchte den Ort und gab Strickkurse. Sie fand Mitstreiterinnen, denn viele Frauen besaßen durchs Flicken von Fischernetzen Geschick. Erst war's Zeitvertreib im Notunterkunftsalltag, aber immer mehr Frauen klagten, dass sie keinen Job fänden. „Wenn wir die Technik verbessern, können wir aus dem Hobby Arbeitsplätze machen“, fand die Deutsche und gründete 2012 das Umemura-Martina-Kesennuma-Atelier.

Anfangs strickte das Miniunternehmen Socken und Nackenwärmer, die in Warenhäusern als „made im Katastrophengebiet“ angeboten wurden. Bald machte man auch Pullis und Strickjacken, die zum stolzen Preis von umgerechnet 600 bis 1500 Euro verkauft werden konnten. 2013 wurde ein Laden eröffnet. „Unsere Sachen verkaufen sich im ganzen Land“, freut sich Keiko Ito, die zu den Gründern gehört. Einst hat sie in einer Fischverarbeitungsfabrik gearbeitet, die der Tsunami zerstörte. „Mit dem neuen Arbeitsplatz bin ich als 52-Jährige nicht mehr gezwungen, meine Stadt zu verlassen.“

Stricken mit Katastrophenbonus. Das Strickgeschäft beschäftigt jetzt mehr als 30 Frauen und hat Aufträge für die nächsten zwei Jahre. „Noch profitieren wir vom Katastrophenbonus“, wissen die Frauen. „Wir werden jedoch Qualität und Design weiter verbessern, um dieses Niveau halten zu können.“

Hilflos musste auch Tsunami-Experte Fumihiko Imamura im Fernsehen anschauen, wie die Wellen das Land verwüsteten. An Bord eines Hubschraubers besichtigte der Professor der Tohoku-Universität zwei Tage später das Gebiet. „Der Anblick platt gewalzter Häuser und Trümmer, wohin das Auge blickte, machte mich sprachlos.“

Imamura, dessen Uni im Krisengebiet liegt, hatte in Tokio an einem Projekt gearbeitet, um Prognosen und Notfallpläne für Naturkatastrophen in dieser Region anhand historischer Daten und neuer Erkenntnisse zu aktualisieren. Das Beben kam für ihn zu früh, die Ergebnisse waren noch nicht nutzbar. Er erinnert sich an weiche Knie und Angst, mit den Einwohnern zu sprechen. „Als Tsunami-Forscher war ich geschockt und beschämt.“ Ohne Antworten stand er Fragen und Angriffen gegenüber. „Warum konnte das passieren, die Fluchtpläne waren untauglich!“

50 Zentimeter? 30 Meter! Eine Frau klagte, sie habe ihre Tochter im zweiten Stock des Hauses sicher gewähnt und sei in den Ort gelaufen, um zu warnen. Die Welle zerfetzte das Haus, das Mädchen starb. „Ich wusste keinen Trost, die Frau hatte unseren Prognosen geglaubt.“ Die Expertisen hatten in diesem Ort Wellen mit maximal 50 Zentimetern Höhe erwartet. Tatsächlich erreichten sie 30 Meter und wälzten sich auf 110 km Uferlinie zehn Kilometer ins Land. Die meisten der über 16.000 geborgenen Opfer ertranken, weil sie das nicht erwartet hatten.

Lexikon

Am 11. März 2011 löste das Tōhoku-Beben vor der Küste Nordostjapans (Stärke 9 nach Richter) einen Tsunami an weiten Küstenabschnitten aus. Das Meer drang bis zu zehn Kilometer ins Landesinnere vor, teilweise mit über 30 Meter hohen Wellen. Das AKW Fukushima wurde zerstört, die Region in 30 Kilometern Umkreis ist bis heute gesperrt.

Entgegen vielen Fehldarstellungen war die Zerstörung des AKWs nicht ursächlich für die Opferzahl, sondern allein die Flut bzw. das Beben. Bisher barg man rund 16.000 Tote, mehr als 2500 Vermisste gelten als tot.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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