Südkoreas verkaufte Kinder

(c) REUTERS (� Kim Hong-Ji / Reuters)
  • Drucken

Jahrzehntelang "exportierte" kein Land mehr Adoptivkinder. Agenturen löschten die wahren Identitäten der Säuglinge, viele werden ihre leiblichen Eltern nie kennenlernen.

83-1340/SJH steht in fetten schwarzen Lettern auf den Unterarm tätowiert. Vor knapp 33 Jahren, im Dezember 1983, begann für Kim Jongdae ein neues Leben. Als das zehn Monate alte Baby die Hafenstadt Busan verließ, war er nur eine Nummer. Ein paar Stunden später, nach einer Reise um die halbe Welt, hatte er einen neuen Namen, einen neuen Geburtstag – und neue Eltern.

Patrik Lundberg ist das 1340. Kind aus Südkorea, das von einem ausländischen Ehepaar adoptiert worden ist. Mit seinen asiatischen Gesichtszügen, schwarzen Haaren und der hellbraunen Haut wuchs Lundberg in Sölvesborg, einer 8500-Einwohner-Gemeinde in Südschweden, auf. Das Tattoo mit der Fallnummer seiner Adoption sei eine Kritik, sagt der 33-Jährige. „Eine Kritik daran, dass meine ursprüngliche Identität gelöscht wurde.“


Kinderwäsche. Mit 24 entschied sich Lundberg, für ein Auslandsemester zurückzukehren und seine leiblichen Eltern zu suchen. Er hatte Glück. Viele Adoptivkinder aus Korea werden Vater und Mutter niemals kennenlernen. Grund dafür ist die sogenannte Kinderwäsche. Die großteils privaten Adoptionsagenturen im Land waschen die Papiere der ihnen überlassenen Kinder wie Geld, um internationale Adoptionen zu erleichtern und damit Profit zu machen. Für eine Adoption verlangen die Firmen von den ausländischen Eltern rund 30.000 Euro. Die meisten internationalen Adoptivkinder sind als Waisen registriert. Oft leben die leiblichen Eltern jedoch noch. Es sei einfacher, das Kind im Ausland zu adoptieren, wenn die Eltern unbekannt seien, erklärt Lundberg.

Auf der Suche nach ihren Wurzeln seien die jungen Erwachsenen mit immer gleichen Ausreden konfrontiert: Die Dokumente seien bei einem Feuer verbrannt, bei einer Überschwemmung zerstört oder gestohlen worden, sagten die Adoptionsfirmen. Einigen Auslandskoreanern gelingt es dennoch, ihre Eltern aufzuspüren.

Auch Lundbergs Adoptionspapiere sind gefälscht. Seine vermeintlichen Eltern entpuppten sich bei ihrem ersten Treffen als Onkel und Tante. „Es war ein großer Schock für mich, als sie sagten, sie seien nicht meine Eltern.“ Seine leibliche Mutter sei nach seiner Geburt in eine Depression gefallen und habe die Familie verlassen. Sein Vater sei seit einem schweren Autounfall arbeitsunfähig. Beide hätten sich nie erholt. Tante und Onkel versuchten ihn zunächst selbst aufzuziehen. Doch außer um ihre eigenen vier Kinder kümmerten sie sich bereits um Lundbergs drei Jahre älteren Bruder. Sie konnten sich den Säugling nicht leisten.

Tabu Adoption. Lundberg ist Teil des womöglich weltweit größten Adoptionsexodus aus einem Land. Seit dem Korea-Krieg (1950–53) wurden 200.000 Südkoreaner in mehr als 15 Ländern adoptiert, zwei Drittel in den USA. Mitte der 1980er-Jahre waren es rund 24 Babys täglich. Südkorea galt daher lang als „Cadillac“ unter den Ländern mit ausländischen Adoptionsprogrammen.

Anfangs waren es verwahrloste Sprösslinge aus Verhältnissen mit ausländischen Soldaten. „Straßenstaub“ wurden sie genannt, ausgeschlossen von der streng konfuzianischen Gesellschaft. Heute stammen 90 Prozent der Adoptivkinder aus unehelichen Beziehungen. In einem Land, das sich als zwölftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt rühmt, geben unverheiratete Mütter ihr Kind lieber zur Adoption frei als stigmatisiert zu werden: Sie fürchten, Ausbildungsstätte und Beruf zu verlieren, oder gar von der Familie verstoßen zu werden. Ein gefundenes Fressen für die Adoptionsstellen, die aus Profitgier lang versuchten, die hohe ausländische Nachfrage zu decken: Sie bezahlten Schwangere zwar nicht direkt, lockten sie aber mit Unterkunft und medizinischer Versorgung.

Der Babyexport warf ein schiefes Licht auf Südkorea. In wenigen Jahrzehnten hatte sich das Entwicklungsland zu einem modernen Industriestaat entwickelt, konnte aber scheinbar nicht für seinen Nachwuchs sorgen. Die Regierung schiebt daher seit wenigen Jahren internationaler Adoption einen Riegel vor: Mit einer Gesetzesänderung 2007 dürfen nur mehr zehn Prozent der Kinder von Ausländern adoptiert werden. Seit 2012 müssen Eltern zu adoptierende Sprösslinge vor Gericht registrieren. Das soll den Kindern später die Kontaktaufnahme erleichtern. Bis 2015 konnten Arbeitgeber Adoptionen, uneheliche Kinder und Scheidungen im Familienregister einsehen. Auch diesen Passus strich die Regierung.

Tatsächlich ist die Zahl internationaler Adoptionen drastisch – von rund 1000 Fällen 2007 auf 263 im Jahr 2013 – zurückgegangen. Mit ungewollten Folgen: Immer mehr ledige Mütter, die sich nicht registrieren lassen wollen, legen Neugeborene in Babyklappen. Waisenhäuser sind nun voller Kinder, die zuvor ein Zuhause im Ausland gefunden hätten. Das Problem: In Südkorea ist Adoption ein Tabu. Blutlinien und Herkunft sind extrem wichtig, das Kind soll nichts von seiner Adoption erfahren. Die strengen Gesetze schreckten viele Paare zusätzlich ab. Seit Kurzem boomen daher illegale Internet-Adoptionen. So können sich zukünftige Eltern sogar Geschlecht und Blutgruppe des Kindes aussuchen. Solange der Staat die Frauen finanziell nicht stärker unterstütze und die sozialen Vorurteile weiterhin bestünden, werde sich an den Praktiken nichts ändern, meint Lundberg.


Weiß im Inneren. Manchmal fragt sich der Schwede heute noch, welches Leben er führte, wäre er nicht adoptiert worden. Er glaubt nicht an das gängige Argument, dass Kinder wie er ohne Adoption verelendet wären: „Wahrscheinlich hätte ich eine arme Kindheit verbracht. Aber arm zu sein bedeutet nicht, zu versagen.“ Es ist ein Gefühl, das er mit vielen Adoptivkindern teilt: Im Ausland nicht unbedingt besser dran gewesen zu sein. In ihren neuen – vielleicht reicheren, mehr behüteten – Heimatländern haben die Heranwachsenden mit anderen Problemen zu kämpfen.

In Sölvesborg blieb Lundberg Rassismus erspart. „Jeder kannte mich.“ Doch in großen asiatischen Städten werde er auf die Hautfarbe reduziert. „Das war und ist immer noch nicht einfach für mich. Im Innern fühle ich mich weiß.“ Er will sich nicht auf einen Teil seiner Identität vermindern lassen. Daher beschloss er, nach dem Studium in Korea nach Schweden zurückzugehen. „Das war nur ein Teil meines Lebens. Ich wurde adoptiert. Aber ich bin gleichzeitig alles andere.“

Steckbrief

Patrik Lundberg
wurde 1983 als 1340. Kind aus Südkorea adoptiert. Er wuchs in der südschwedischen Kleinstadt Sölvesborg auf. Mit 24 Jahren entschied sich Lundberg, seine leiblichen Eltern zu finden – und erfuhr, dass seine Adoptionspapiere gefälscht sind. Seine vermeintlichen Eltern sind in Wahrheit Onkel und Tante.

Seine Erfahrungen
als internationales Adoptivkind verarbeitete der Journalist und Autor in zwei Büchern, die auf Schwedisch erschienen sind. Derzeit arbeitet Lundberg für die schwedische Tageszeitung „Aftonbladet“ in Malmö.

Anna Wahlgren

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.