Indien: Der längste Hungerstreik der Welt

Die Aktivistin Irom Chanu Sharmila wurde durch eine Sonde zwangsernährt.
Die Aktivistin Irom Chanu Sharmila wurde durch eine Sonde zwangsernährt.(c) REUTERS (STRINGER)
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Aus Protest gegen das Kriegsrecht hat Irom Chanu Sharmila 16 Jahre lang keine Nahrung zu sich genommen. Nun will die Aktivistin Regierungschefin ihres Bundesstaats werden.

Wien/Neu Delhi. Fast 16 Jahre lang, insgesamt 5757 Tage, hat Irom Chanu Sharmila nicht den Mund aufgemacht, um Nahrung zu sich zu nehmen. Weder hat sie gekaut, noch geschluckt, und jedes Mal, wenn der Richter sie fragte, ob sie ihr Fasten endlich beenden wolle, antwortete Sharmila mit Nein. Vor zwei Tagen kostete die 44-jährige Inderin ein paar Tropfen Honig. Es war die erste „Mahlzeit“ nach all den Jahren, denn an jenem Tag hat Sharmila ihren Hungerstreik beendet – den weltweit wohl längsten Protest dieser Art.

„Ich muss meine Strategie ändern“, sagt Sharmila nun. „Ich faste seit 16 Jahren und habe bisher nichts erreicht.“ Sie hat ein Ziel, und das will sie künftig als Politikerin durchsetzen: „Ich möchte Regierungschefin in Manipur werden und ich möchte, dass mein Volk an mich glaubt.“ In Manipur, dem Bundesstaat im krisengeschüttelten Osten des Landes, begann auch Sharmilas Aktionismus. Im Kampf gegen separatistische Rebellen hat die Regierung Ende der 1950er-Jahre eine Sonderregelung eingeführt. Das Gesetz – Armed Forces Special Powers Act, AFSPA – erlaubt Soldaten die Verfolgung und gar die Tötung von potenziellen Rebellen ohne jegliches Verfahren.

So massakrierten paramilitärische Assam Rifles im November 2000 zehn Menschen an einer Bushaltestelle. Sharmila sah die Bilder der Leichen. Drei Tage später fuhr sie zu befreundeten Bürgerrechtsaktivisten und teilte ihnen mit, dass sie so lange hungern werde, bis die Regierung das AFSPA-Gesetz aufhebt.

Babynahrung und Püree

Mit Beginn des Protests wurde die Aktivistin festgenommen, Hungerstreik gilt als versuchter Suizid und wird in Indien geahndet. Die allermeiste Zeit verbrachte Sharmila denn auch im gefängniseigenen Spital, wo ihr Ärzte durch eine Nasensonde Medikamente, Babynahrung und Püree zuführten. Die Sonde ist zum Markenzeichen von Sharmilas entschlossenem Kampf geworden, sie erhielt den Beinamen „Die eiserne Lady von Manipur“. Immer öfter tauchte sie in Medienberichten auf, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, Amnesty International machte auf das AFSPA-Gesetz und Sharmilas Isolationshaft aufmerksam. Angesichts ihrer steigenden Popularität sagt die Aktivistin aber: „Macht keine Göttin aus mir.“ Und: „Ich bin nur eine gewöhnliche Person in einem außergewöhnlichen Kampf.“

Ihr Vorbild sei Mahatma Gandhi, so die „eiserne Lady“. In Haft verfasste sie Gedichte, weiters hätten sie Gebete und Yoga in all den Jahren fit gehalten. So wollte Sharmila nach ihrer Entlassung auch in ein Ashram-Mediationszentrum ziehen, aufgrund ihres fragilen gesundheitlichen Zustandes wurde sie dort aber abgelehnt. Derzeit ist die angehende Politikerin bei einem Arzt untergebracht.

Ihre Mutter hat Sharmila seit Beginn des Protests nur einmal gesehen. In diesem Zustand könne sie ihr nicht unter die Augen treten, meinte die Aktivistin einmal; das würde ihren Willen brechen. Gemeinsam mit ihren acht Geschwistern wuchs Sharmila unter ärmlichen Verhältnissen im Kriegsgebiet auf. Nach mehreren Gelegenheitsjobs nahm sie Journalismus-Unterricht und wurde als Menschenrechtsaktivistin aktiv. Politikerin wollte sie nie werden. Nun bereitet sie sich auf die Regionalwahlen im Februar 2017 vor. (duö)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2016)

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