Versteckt, verleugnet – gefördert?

Behinderung in Indien
Behinderung in Indien(c) GREGOR KUNTSCHER
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Behinderung in Indien. Noch heute werden Kinder mitunter aus Scham in dunklen Kammern versteckt. Wie sie – auch mit Hilfe aus Österreich – zu ihren Rechten kommen.

Guwahati. Der 17-jährige Ricky ist blind, aber das müsste er wohl nicht sein. Hätte ihn damals, mit 15, als er sich nach einem Sturz vom Dach nicht mehr bewegen konnte, gleich ein Arzt behandelt, statt nur einer Masseurin. Nach zwei Wochen war es nicht besser, die Mutter brachte ihn doch ins ferne Hospital, ein Arzt gab ihm zwei Tabletten, er schluckte sie, am nächsten Tag war Ricky blind. Hätte man ihn dann, als seine Mutter insistierte, was da passiert sei, behandelt, statt ihr zu sagen: „Wer ist der Arzt? Du oder ich?“, vielleicht wäre heute alles anders. Vielleicht. Was die Ursache seiner Blindheit ist, weiß heute niemand. Nur dass der Schaden irreversibel ist und er das Leben seiner Mutter und seiner drei Brüder – der Vater ist weg – komplett umgedreht hat, wie die Mutter in der kleinen Hütte, die nicht viel mehr ist als ein Holz-Blech-Verschlag auf Lehmboden, erzählt. Sie arbeitet nicht mehr, seit sie ihren Sohn gestürzt und verletzt in der Hütte fand, als sie von der Arbeit kam. Für die Familie sorgt ein Bruder, als Tagelöhner verdient er 200 Rupien am Tag, keine drei Euro, manchmal reicht das – oft aber nur für Tee mit Milch.

Die Geschichte von Ricky und den Folgen einer wohl vermeidbaren Behinderung ist eine, wie es sie in Ländern wie Indien zu Millionen gibt. Nach Schätzungen der WHO leben rund eine Milliarde Menschen mit Behinderungen, 80 Prozent davon in Armutsgebieten. Oft führen einfache Infekte, fehlende Versorgung oder Hygiene zu dauerhafter Behinderung – diese Fälle wären also vermeidbar. Bei Erblindung sind das vier von fünf.

(c) Die Presse

In Nordostindien, einer der ärmsten Regionen des 1,3-Milliarden-Subkontinents, leben laut Schätzungen von WHO und Weltbank 15 Prozent der Menschen mit Behinderung – etwa 9,6 Millionen Menschen. Das offizielle Indien ist vergleichsweise aufgeschlossen, wenn es um Inklusion geht. Indien hat als eines der ersten Länder die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die vor zehn Jahren beschlossen wurde. Die Praxis sieht anders aus, da weiß niemand, wie viele Menschen überhaupt mit Behinderung leben.

Keiner weiß, wie viele versteckt sind

Die Geschichte des 14-jährigen Rahoul Mejar, aus dem Dorf Burkuchi, östlich von Assams Hauptstadt Guwahati, zeigt das: Er wurde mit Zerebralparese geboren, jener Beeinträchtigung des Nervensystems und der Muskulatur, die oft auf Hirnschädigungen während der Geburt zurückzuführen ist. Diese kommen gerade dann, wenn junge Mädchen, oft mit 14 Jahren, ohne medizinische Versorgung Kinder zur Welt bringen müssen, wie das in abgelegenen Dörfern Indiens noch vorkommt. In so einem Dorf, in einer Hütte aus Bast und mit Lehmboden, lag Rahoul neun Jahre lang auf einem Bett. Seine Eltern wussten nichts mit ihm anzufangen, dazu kam das Stigma, die Scham.

Erst nach drei Besuchen, erzählt Kabui Namghaklung vom CBR-Forum (Community Based Rehabilitation, einer der lokalen Partner von Licht für die Welt), hat die Familie überhaupt erzählt, dass es Rahoul gibt und man Hilfe brauche. Wie viele Kinder, die derart leben, es in Indien gibt, weiß niemand.

Nach wie vor gehen Sozialarbeiter wie die vom CBR-Forum von Tür zu Tür und fragen, ob es jemanden gibt. Von Behindertenrechten oder Rehabilitation wissen die Menschen oft nichts. Seit Rahoul betreut wird, er täglich die Übungen aus der Physiotherapie macht, kann er sitzen, spielen, er ist, erzählt die Familie, im Dorf nun akzeptiert und lacht, als er zeigt, wie er sich fortbewegt: Er nimmt zwei Basthocker, wuchtet sich von einem auf den anderen, stellt den hinteren wieder vor sich.

Dass so eine Geschichte – auch wenn der Grad der Schädigung freilich sehr unterschiedlich sein kann – ganz anders verlaufen kann, zeigen die Fälle zweier Mädchen: Puja Boro aus dem Dorf Thakurkuchi, auch sie Tochter von Tagelöhnern, auch hier die Diagnose Zerebralparese, macht heute am College von Guwahati ihren Bachelor in Wirtschaftsrecht. Ihre Mutter, wie die Tochter eine auffallend hübsche Frau mit weichen Zügen und pastellfarbenem Sari, erzählt, wie sie das Mobbing im Dorf resolut unterbunden hat, wie sie – auch mit rechtlicher Unterstützung lokaler NGOs und von Licht für die Welt – durchgesetzt hat, dass ihre Tochter zur Schule gehen und studieren kann. Solche Beispiele machen Schule. Das Baby Dikita Das (siehe Foto) konnte mit einem Jahr nicht sitzen. Eine Nachbarin, ebenfalls Betroffene, ermutigte die Mutter, sich von NGOs helfen zu lassen. Zuvor, sagt sie, wusste sie nichts von Behindertenrechten.

Dabei hat sich das offizielle Indien die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung längst auf die Fahnen geheftet. Mittlerweile gibt es eine (minimale) Disability-Pension oder eine Drei-Prozent-Klausel zur Inklusion von Menschen mit Behinderung bei der Vergabe von Stellen im öffentlichen Dienst. Um diese Rechte durchzusetzen braucht es oft die Hilfe von NGOs – etwa bei Gerichtsverfahren. Auch der Wandel in der Sichtweise, von defizitär Kranken und Hilfsempfänger hin zu Teilnehmern des gesellschaftlichen Lebens geht langsam voran.

„Ein Prozent von dem, was nötig ist, haben wir erreicht“, sagt Vinod Seshan. Er ist so etwas wie ein Bezirkshauptmann des Distrikts Kamrup – und ein, nicht nur für indische Verhältnisse, auffallend offener Beamter: Die Bürokratie sei träge, das Problem der Isolation und Stigmatisierung noch immer drängend. Wenn das offizielle Indien so aufgeschlossen ist, wozu braucht es ausländisches Engagement? „Man kann das als Schwäche sehen, aber der Staat lernt von den NGOs. Indien braucht viel Zeit, wir sind beim Thema Inklusion um 25 bis 70 Jahre hinter westlichen Staaten, da brauchen wir Unterstützung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2016)

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