Die frühere französische Kolonie Haiti ist geplagt von politischen Krisen und Naturkatastrophen, seit sie vor 200 Jahren die Unabhängigkeit erreicht hat. Entspannung ist für die Karibikrepublik in diesem Jahr nicht in Sicht.
Wenn fromme Botschaften vor Unglück schützen könnten, dann wäre Haiti ausgezeichnet gewappnet. „Gott steh uns bei“, „Jesus ist die Antwort“ – Sprüche wie diese prangen auf den haitianischen Sammeltaxis, den Taptaps, die sich normalerweise durch die engen Straßen von Port-au-Prince schlängeln. Jetzt, im Chaos nach dem Erdbeben, wirken sie wie ein verzweifelter Hilfeschrei.
Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1804 wird der karibische Inselstaat, die ehemals reichste französische Kolonie, von Krisen und Katastrophen regelrecht heimgesucht. Katastrophen, die im Jahrestakt aus der Luft kommen: Wirbelstürme suchen die karibische Republik, die sich mit ihrem ungleichen Partner, dem Touristenparadies Dominikanische Republik, ein und dieselbe Insel teilt, regelmäßig im Frühherbst heim. Besonders schlimm war es 2008, als gleich drei Hurrikans – Gustav, Hanna und Ike – über den Neun-Millionen-Einwohner-Staat hinwegfegten und 800 Menschen töteten.
Es sind aber längst nicht nur Naturkatastrophen wie das Erdbeben vom Dienstagnachmittag, die den Nachkommen von aus Westafrika verschleppten Sklaven heute das Leben schwermachen: Haiti, eineinhalb Flugstunden von Miami entfernt, gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. 80 Prozent der Haitianer müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen.
Sicherheit, aber keine Stabilität
Auch die politische Geschichte des Landes ist, nachdem General Jean-Jacques Dessalines 1804 die Franzosen besiegte, eine der Krisen und Staatsstreiche. Das Los eines gewaltsamen Todes traf schon den Staatsgründer, der 1806 – nach nur zwei Jahren Regentschaft als selbsternannter „Kaiser“ – ermordet wurde; viele seiner Nachfolger sollte dasselbe Schicksal ereilen.
In fester Hand hielt das Land nur das knapp drei Jahrzehnte dauernde Schreckensregime der beiden Duvaliers – bekannt als Papa Doc und Baby Doc.
Die 1990er-Jahre waren geprägt von der Rückkehr Jean-Bertrand Aristides, einem früheren Armenpriester, der nach einer Militärintervention der USA 1994 nach Port-au-Prince eingeflogen wurde. Doch auch seine Herrschaft endete 2004 nach einem bewaffneten Aufstand, und Aristide floh nach Südafrika, von wo aus er und seine Anhänger noch immer auf eine abermalige Rückkehr hoffen – in der derzeitigen unüberschaubaren Situation wohl mehr denn je.
Seit dem Abdanken Aristides ist eine 9000 Mann starke UN-Mission auf Haiti stationiert. Der grassierenden Kriminalität hat sie Einhalt geboten, die Menschen trauen sich wieder nachts auf die Straßen. „Die politische und wirtschaftliche Situation hat sich aber nicht verbessert“, sagt Pierre Despagne, Direktor der Gesundheitsorganisation CDS. Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr hatte Haiti neben einer schweren Dürre auch unter der Wirtschaftskrise zu leiden, die Summe der Geldtransfers der US-Diaspora sank drastisch.
Versuche von Bill Clinton, seines Zeichens UN-Sonderbeauftragter für Haiti, Investoren für das Land zu gewinnen, waren nur mäßig erfolgreich. Jetzt sind in erster Linie wieder die nur allzu gut bekannten Hilfslieferungen gefragt, die zwar die schlimmste Not der Haitianer lindern, aber nichts an der Misere des Landes ändern.
Entspannung ist für die geschundene Karibikrepublik in diesem Jahr nicht in Sicht. Ende 2010 finden Präsidentenwahlen statt; Staatschef René Préval, der den Erdstoß überlebt haben dürfte, darf nicht mehr antreten. Wahlen bedeuten auf Haiti Instabilität – und Putschgefahr: ein drohendes politisches Nachbeben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2010)