„Die Gefahr neuer Unruhen in Haiti ist sehr real“

  • Drucken

Lateinamerika-Experte Maihold warnt vor Rückkehr Aristides.

„Die Presse“: Aus Port-au-Prince werden zahlreiche Plünderungen berichtet. Inwieweit hat die Regierung das Land noch unter Kontrolle?

Günther Maihold: Die Regierung hat nie die Kontrolle gehabt. Haiti ist ein gescheiterter Staat: Grundlegende Leistungen wie Sicherheit und Daseinsvorsorge werden vom Staat nicht erbracht. Durch das Erdbeben wird dieses Problem potenziert. Wir haben keine zentralen Instanzen, die funktionieren – und müssen darauf hoffen, dass die seit 2004 im Land stationierte UN-Mission einspringen kann.

Wie groß ist die Gefahr von Unruhen?

Maihold: Das ist eine sehr reale Gefahr. Deshalb ist es sehr wichtig, die Hilfe zu koordinieren, um nicht in ein wildes Durcheinander zu kommen. Auch besteht die Gefahr, die wenigen funktionierenden Autoritäten, etwa Bürgermeister, noch mehr an den Rand zu drängen. Die Hilfsorganisationen sind in ein paar Monaten wieder weg.

Was bräuchte Haiti für die Zeit danach, um zu mehr wirtschaftlicher und politischer Stabilität zu finden?

Maihold: Der Wiederaufbau muss jetzt so organisiert werden, dass Arbeitsbeschaffung für die Bevölkerung stattfindet – beim Straßenbau, der Renovierung von öffentlichen Gebäuden. Und das Land benötigt natürlich eine robuste finanzielle Hilfe, denn Haiti wird nicht aus eigenen Kräften in der Lage sein, sich wieder aufzurichten. Haiti wird aber auch nicht durch die ausländische Hilfe zu einem blühenden Gemeinwesen. Sehr wichtig ist, die Grundfunktionen des Staates wieder zum Laufen zu bringen.

Der exilierte Ex-Präsident, Jean-Bertrand Aristide, hat angekündigt, er wolle nach Haiti zurückkehren. Was würde das bedeuten?

Maihold: Aristide versucht, durch das Beben eine Rückkehr nach Haiti zu inszenieren. Denn in der Bevölkerung regt sich schnell Unzufriedenheit über die Lage – und da sieht er als Populist Chancen auf einen Wiedereinstieg ins politische Geschäft. Für alle internationalen Kräfte, insbesondere USA und UN, ist das nichts Wünschenswertes. Denn dann wären schwere politische Unruhen zu befürchten.

Warum ist Haiti politisch eigentlich ein derart instabiles Land?

Maihold: Da gibt es einige Faktoren, die eine Rolle spielen. Ein Faktor ist sicher die langjährige Diktatur der Duvaliers (1957–1986), die den Staat als Privatunternehmen geführt haben, als Instrument der Aneignung für private Zwecke. Es hat nie Führungskräfte gegeben, die die Entwicklung des Landes voranbringen wollten. Eine Zentralgewalt konnte sich bis heute nicht durchsetzen, es blieb bei einem Konflikt von Privatarmeen: Politische Bewegungen haben ihre „Gewaltakteure“ – wenn man sich politisch nicht durchsetzen konnte, hat man Unruhen und Bandenterror inszeniert. Wir haben kein konsolidiertes Parteiensystem, sondern kurzfristige, an Personen orientierte Bewegungen – wie etwa Aristides Bewegung „Lavalas“. All das macht es schwierig, eine stabile politische Lage herbeizuführen. som

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.