„Den Indianer im Kind töten“: Kanada arbeitet Untaten auf

bdquoDen Indianer Kind toetenldquo
bdquoDen Indianer Kind toetenldquo(c) AP (KEVIN FRAYER)
  • Drucken

„Wahrheits- und Versöhnungskommission“ beginnt mit der Arbeit, die Geschichte der einstigen staatlichen Internatsschulen aufzuarbeiten, in denen Kinder von Ureinwohnern ihrer Identität und Kultur wurden.

OTTAWA. Kanada unternimmt dieser Tage einen wichtigen Schritt, um die traurige Geschichte der einstigen staatlichen Internatsschulen aufzuarbeiten, in denen Kinder von Ureinwohnern ihrer Identität und Kultur beraubt und seelisch und körperlich missbraucht wurden. Vor der sogenannten „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ können Überlebende des Schulsystems ihre Erfahrungen schildern. Es soll den heute erwachsenen Opfern auch helfen, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

„The Forks“ in Winnipeg, Hauptstadt der zentralkanadischen Provinz Manitoba, wo der Assiniboine- in den Red River mündet, ist ein traditioneller Treffpunkt der Indianer. Hier nahm die Kommission mit dem ersten Treffen von Überlebenden der sogenannten „Residential Schools“ jüngst ihre Arbeit auf. Hunderte Menschen nutzten dabei die Chance, vor der Kommission von ihrem Schicksal zu erzählen.

„Heilung beginnt mit Worten“

Unter denen, die zuhörten, war Kanadas Generalgouverneurin Michaelle Jean, das für Queen Elizabeth II. amtierende Staatsoberhaupt, selbst aus Haiti. Die Heilung beginne mit Worten, sagte sie am Schlusstag des ersten Treffens. „Worte werden es ermöglichen, dass die Missachtung und Unkenntnis eines der tragischsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte durch die Wahrheit überwunden wird.“

„Für viele wird dies das erste Mal sein, dass sie über diese Dinge sprechen können. Wir werden ihre Worte ehren. Wir werden sie respektieren“, hatte Richter Murray Sinclair, Vorsitzender der Kommission, oberster Richter der Provinz Manitoba und selbst indianischer Abstammung, zu Beginn des ersten Treffens der Wahrheits- und Versöhnungskommission gesagt. Die Geschichten der Überlebenden der „Residential Schools“ würden aus dem Schatten herausgeholt. Es gebe in Kanada viele Menschen, die die Geschichte der Internatsschulen und ihre Folgen für die Ureinwohner und Kanada nicht kennen würden. „Die Wahrheit wird uns am Ende alle heilen.“

Kirchen als Schulbetreiber

Die „Residential Schools“, die vom Staat eingerichtet, überwiegend aber von christlichen Kirchen und Orden geführt wurden, waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das dominierende Schulsystem für alle Ureinwohnerkinder von den zahlreichen Stämmen der Indianer sowie für junge Inuit und Metis.

Sie wurden oft gegen den Willen ihrer Eltern in diese Schulen gebracht, die zudem meist entfernt von ihren Gemeinden waren. Sie hatten während dieser Zeit kaum Kontakt zu ihrem Volk, durften ihre Sprache und Kultur nicht praktizieren. Es war eine Assimilierungspolitik, darauf angelegt, „den Indianer im Kind zu töten“, wie es damals hieß – eine ähnliche Politik fand übrigens über viele Jahrzehnte auch in Australien in Bezug auf die Aborigines statt.

Zu seelischem Missbrauch und körperlichen Züchtigungen kam in vielen Fällen sexueller Missbrauch. Die Zerstörung indianischer Identität durch dieses System wird als eine der Ursachen für die zahlreichen Probleme in Ureinwohnergemeinden – vor allem Alkoholmissbrauch, Arbeitslosigkeit und Gewalt – gesehen.

Rund 150.000 Opfer

Vermutlich rund 150.000 Ureinwohnerkinder durchliefen das System, etwa 80.000 davon leben noch. Tausende Kinder, die während der Schulzeit starben, wurden in anonymen Gräbern beigesetzt, ihr Schicksal ist unbekannt. Die letzte „Residential School“ schloss vor etwa 15 Jahren.

Vor zwei Jahren entschuldigte sich Kanadas Premierminister Stephen Harper für das Leid, das den Ureinwohnern über Jahrzehnte zugefügt worden war. Für die Opfer wurden 1,9 Milliarden kanadische Dollar (circa 1,45 Mrd. Euro) als Entschädigung bereitgestellt. Zugleich wurde die Einrichtung der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ beschlossen. Viele Indianer sehen in ihr einen Schritt zur Heilung, der viel wichtiger sei als das Geld.

Treffen über vier Jahre

In den kommenden vier Jahren werden Treffen der Kommission an verschiedenen Orten Kanadas stattfinden. Shawn Atleo, der nationale Oberhäuptling Kanadas, dankte allen, die den Mut haben, jetzt zu sprechen. Er appellierte an die Kanadier, im Geist des Respekts und der Versöhnung zuzuhören, um aus der Geschichte zu lernen und „ein faireres und gerechteres Kanada zu schaffen“.

LEXIKON

Von 32 Millionen Kanadiern sind etwa 1,3 Mio. Indigene in
drei Gruppen: Indianer („First Nations“), ca. 700.000 Menschen in 615 Stämmen, die Métis (Abkömmlinge aus Beziehungen europäischer Pelzhändler mit Indianern, 400.000 bis 500.000 Menschen) und Inuit (ca. 55.000).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.