Der ohnehin schwache Staat droht an der Flutkatastrophe zu zerbrechen. Man kommt nicht annähernd mit den Hilfsmaßnahmen nach und stößt schon jetzt an die Belastungsgrenze. Eine Analyse.
Bangkok/Islamabad. Die Flutkatastrophe in Pakistan hat fürchterliche Ausmaße. Der pakistanische Staat kommt nicht annähernd mit den Hilfsmaßnahmen nach und stößt schon jetzt an seine Belastungsgrenze. Doch die Überflutungen könnten mittelfristig ein weiteres Opfer fordern: den pakistanischen Staat selbst.
Pakistan, wo etwa 174 Millionen Menschen leben, war schon vor der Katastrophe ein schwacher Staat. Es mangelt an Schulen und Krankenhäusern, die Bürokratie ist ineffektiv und korrupt, die Justiz wird ihrem Auftrag nicht annähernd gerecht. Das hat im Wesentlichen den Aufstieg von einem Dutzend militanten Islamistengruppen im Nordwesten des Landes ermöglicht. Große Gebiete an der Grenze zu Afghanistan wurden jahrelang von radikalen Klerikern und deren Freischärlern oder brutalen Stammesmilizionären regiert. Seit einer Reihe von Armeeoffensiven im Vorjahr sind die Militanten geschwächt. Jetzt präsentieren sie sich den Flutopfern als engagierte Retter.
Aufstände der Armen
Doch das Versagen des Staates macht sich auch in anderen Teilen des Landes bemerkbar. Im Süden des Punjab, Pakistans einfluss- und bevölkerungsreichster Provinz, herrscht Armut, wie es sie sonst nur in manchen Gegenden Zentralafrikas gibt. Die Region gilt einigen Beobachtern schon seit Jahren als riesiges Rekrutierungsfeld für Selbstmordattentäter. In Belutschistan, Pakistans größter Provinz, die den gesamten Westen einnimmt und rund 40 Prozent des Landes ausmacht, unterdrückt die Armee seit der Staatsgründung im Jahr 1947 immer wiederkehrende Aufstände gegen die Herrschaft Islamabads mit großer Brutalität.
Wirklich beliebt ist der pakistanische Staat eigentlich nur bei den Eliten des Landes. Diese wohnen idyllisch am Fuße der Margalla-Hügel in der Hauptstadt Islamabad. Die Stadt erinnert in weiten Teilen eher an Beverly Hills als an die Hauptstadt eines bitterarmen Entwicklungslandes. Hier unterhalten auch viele der Großgrundbesitzer des Landes fürstliche Wohnsitze. Anders als in Indien, wo Regierungen auf Stimmenfang über Jahrzehnte den Armen zögerlich Konzessionen zugestanden haben (etwa durch Landreformen und Ansätze eines Sozialsystems), gebieten in Pakistan immer noch in weiten Teilen des Landes mächtige Landlords über Tausende von Kleinbauern.
Die Armee als Hauptproblem
Pakistaner bezeichnen das ein wenig verlegen als „Feudalsystem“. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um die menschenverachtenden Strukturen des Kastenwesens, das auch die Muslime Südasiens beibehalten haben, als sie zum Islam konvertiert sind. Damit herrscht heute absurderweise in der Islamischen Republik Pakistan ein drastischeres Kastenwesen als im hinduistischen Indien, mit schwerwiegenden sozialen Folgen.
Pakistans größtes Problem bleibt jedoch die Armee, die mit ihren 620.000 Soldaten einen beträchtlichen Teil des Staatshaushalts verschlingt. Sie hat das Land seit seiner Gründung mehr als die Hälfte der Zeit direkt kontrolliert und ist für einen Großteil der Missstände verantwortlich.
Dabei ist der Einfluss der Armee nicht nur auf die Sicherheitspolitik des Landes beschränkt: Das mächtige Militär kontrolliert ein gewaltiges Konglomerat an Konzernen, die in vielen Bereichen der Wirtschaft über Monopole verfügen. Davon profitieren die Offiziere des Landes, die jedes Jahr zu Tausenden nach Antreten ihres Ruhestandes hoch bezahlte Stellen in den Armee-Konzernen bekommen.
Retter in der Not?
In diesen Tagen lassen sich Pakistans Generäle von den Medien des Landes, die oft dem Militär sehr nahe stehen, als Retter in der Not feiern. Die auffallend laute Kritik am Versagen der zivilen Regierung erfüllt vor allem die Funktion, die Position der Armee zu stärken.
Kommentar, Seite 23
AUF EINEN BLICK
■Laut offiziellen Angaben der Vereinten Nationen sind bei der Flutkatastrophe in Pakistan bisher 1384 Menschen ums Leben gekommen; 1630 weitere wurden verletzt; 730.000 Häuser wurden völlig zerstört und 875.562 Häuser beschädigt. 20 Millionen Menschen sind von den Überflutungen, die nun seit fast drei Wochen andauern, betroffen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2010)